Montag, 20. Juni 2016

„Wo indigenes Land beginnt, hört die Entwaldung auf“

„Wo indigenes Land beginnt, hört die Entwaldung auf“

Interview mit Erwin Kräutler, früherer Bischof und Kämpfer für den Amazonas-Regenwald

Er steht wie kaum ein anderer für den Schutz des Amazonas und seiner indigenen Bevölkerung, und er ist ein erbitterter Gegner von Megastaudämmen: Über 30 Jahre lang war der geborene Österreicher Erwin Kräutler Bischof und Prälat von Xingu, der flächenmäßig größten Diözese Brasiliens. Im Interview mit Alan Azevedo von Greenpeace Brasilien berichtet Erwin Kräutler von der Gleichgültigkeit, den Vorurteilen und der Gewalt, mit denen Brasiliens indigene Gemeinschaften tagtäglich konfrontiert sind. Auch Kräutler selbst stand, wegen seines Engagements für Menschenrechte, viele Jahre lang unter Polizeischutz.

Erwin Kräutler, Kämpfer für den Amazonas (c) CIMI
Ein neuer Bericht zeigt, dass die Gewalt gegen die indigene Bevölkerung in Brasilien enorm gestiegen ist, die Anzahl der Ermordungen sogar um 42 Prozent. Wieso, glauben Sie, ist das so?
Es gibt viele Gründe für die Eskalation der Gewalt. Erstens die fehlende Anerkennung indigener Gebiete. Die Regierung befindet sich in Geiselhaft des Agro-Business und der Großgrundbesitzer, die gegen solche offiziellen Anerkennungen sind. Zweitens flammt die allgemeine Ablehnung gegenüber Indigenen wieder auf. Obwohl ihre Rechte durch die Verfassung geschützt sind, haben viele Menschen in Brasilien nach wie vor die Vorstellung, dass Indigene keine „Leute wie wir“ sind, dass sie  „Waldtiere“, „Untermenschen“ oder „Aussätzige“ sind. Man gibt nicht zu, dass Indigene ein Anrecht auf das Land ihrer Ahnen haben -  schon allein deshalb, weil sie es nicht nach den Gesetzen der Marktwirtschaft und zur Steigerung der Exportquote ausbeuten. In einer Gesellschaft, die sich nach dem Diktat des Neoliberalismus richtet, werden Indigene als Entwicklungs-Hindernisse gesehen.

Sehr erschreckend ist auch die hohe Kindersterblichkeit. In der Stadt Altamira, die ja vom Bau des Staudamms Belo Monte betroffen ist, ist die Rate bei 141 pro 1.000 Kindern, zehn Mal mehr als im nationalen Durchschnitt. Was ist der Grund für diese vielen Todesfälle?
Diese beschämende Tatsache hat viele Ursachen. Ich sehe jedenfalls eine Verbindung zwischen der Kindersterblichkeit und den Großprojekten der Regierung, die wie etwas Sakrosanktes behandelt werden. Die Entscheidungen dazu fallen auf hoher Regierungsebene, ohne dabei die Menschen zu berücksichtigen, die in dem betroffenen Gebiet leben. Noch viel weniger wird dabei auf die Umwelt geachtet. Die Entscheidung zu einem solchen Projekt darf nicht hinterfragt werden, weil es angeblich von nationalem Interesse sei. Als dann die Bevölkerung in Altamira um tausende Menschen wuchs, was tat man? Man hat nicht die ärztliche Infrastruktur ausgebaut, aber man hat dem Bau des Staudamms grünes Licht gegeben; die dafür aufgestellten Kriterien von der Umweltbehörde IBAMA oder von der Stiftung der Indigenen FUNAI gerieten in den Hintergrund.
Was die indigenen Kinder betrifft, sind die Zustände noch erschütternder. In vielen Dörfern fehlt es an den notwendigsten Medikamenten. Die Medizin hat weltweit enorme Fortschritte gemacht, aber dort sterben Kinder an einfachen Durchfallerkrankungen.

Abgesehen von der physischen Gewalt, denen Indigene in Brasilien ausgesetzt sind, müssen sie mit sehr vielen Vorurteilen umgehen. In den sozialen Netzwerken heißt es, sie würden den Wald zerstören, keine Steuern zahlen, dafür Straßen blockieren und den Fortschritt verhindern. Oft scheint es die Leute auch zu stören, dass Indigene Zugang zu Telefon oder Internet haben. Wenn sie Hosen und T-Shirts tragen, werden sie Ziel von Kritik. Warum, denken Sie, gibt es in Brasilien so viel Feindseligkeit gegenüber indigenen Gruppen, und was kann man dagegen tun?
Viele meinen, die Indigenen müssten „normale“ Brasilianer werden und ihrer Zugehörigkeit zu irgendeinem indigenen Volk abschwören. Die Einstellung mancher Leute ist schizophren: Einerseits sollen die Indigenen aufhören, indigen zu sein, sollen ihre Dörfer verlassen, ihren Federschmuck, ihre Körperbemalung und ihre Art und Weise zu leben aufgeben, um wie alle anderen Brasilianer zu sein. Wenn andererseits ein Indigener Jeans und bedruckte T-Shirts trägt, ein Handy hat und gut Portugiesisch spricht, schreien die Verteidiger der brasilianischen Identität auf und sagen: „Das ist ja kein Indigener mehr!“ Vorurteile führen zu Intoleranz und Feindseligkeit. Das ist purer Rassismus! Und Rassismus ist ein Verbrechen.

Die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, die auch von Brasilien unterzeichnet wurde, sieht die Konsultation und die Beteiligung der indigenen Völker bei allen Gesetzten und politischen Vorhaben vor, die ihr Leben betreffen. Wie wichtig ist dieser rechtliche Mechanismus? Und ist er bisher immer berücksichtigt worden – etwa beim Bau vom Staudamm Belo Monte oder beim neuen Megastaudamm-Projekt am Tapajós-Fluss?
Im Fall von Belo Monte gab es weder eine Konsultation noch ein andere Form der Beteiligung der Indigenen. Es wurde aber so getan, als ob. Regierungsvertreter besuchten verschiedene Dörfer und erklärten den Indigenen, welche Vorteile der Staudamm bringen würde. Sie haben Pläne hergezeigt und Monologe gehalten, die für viele Zuhörer unverständlich waren. Übersetzer für die indigenen Sprachen hatten sie keine dabei. Die Indigenen hatten auch keine Gelegenheit, ihre Sicht der Dinge darzulegen.
Im Fall des Staudamms von São Luiz do Tapajós gab es eine Weisung von staatsanwaltlicher Seite, die Baulizenz nicht zu vergeben, bevor nicht eine wie im Gesetz vorgesehene Konsultation der Indigenen und der anderen Fluss-Anwohner stattgefunden hat.

Man weiß durch unterschiedliche Studien, dass, wenn Land in der Hand von Indigenen ist, dies eines der wirksamsten Mittel gegen Abholzung ist. Die Rodung von Wäldern ist ja ein zentraler Verursacher des Treibhauseffekts.  Denken sie, dass es ein Weg für Brasilien sein könnte, gegen den Klimawandel vorzugehen, indem mehr Gebiete der indigenen Bevölkerung zugesprochen werden?
Die Anerkennung ihres Landes ist ein Verfassungsrecht, das den indigenen Völkern zusteht, und gleichzeitig Garantie für ihr kulturelles und physisches Überleben. Und ja, sie trägt dazu bei, zumindest einen Teil des Amazonas zu retten. Wenn man über die Region fliegt, kann  man sehen: Wo indigenes Land beginnt, hört die Entwaldung auf. Die wirklich ursprüngliche Vegetation findet sich praktisch nur in den Gebieten, die den Indigenen gehören. Neben der Errichtung weiterer Nationalpark-Zonen ist die Anerkennung indigener Gebiete die beste Garantie dafür, einen Teil des Amazonas-Regenwaldes vor der Ausbeutung durch Agro-Business und Minengesellschaften oder vor der Zerstörung durch Mega-Staudämme zu schützen.

Erstmals erschienen im September 2015, gekürzt und übersetzt von Nora Holzmann