Donnerstag, 15. Februar 2024

Der Amazonas-Regenwald nähert sich dem Kipppunkt



Der Amazonas-Regenwald könnte 2050 einen Kipppunkt erreichen und kollabieren
Klimastress wird weltweit sichtbar – als Dürre, Höchsttemperaturen an Land und im Meer und häufigere Extremereignisse. Je größer die Belastung, desto eher verstärken sich diese nachteiligen Effekte: Ökosysteme werden weniger resilient, Arten können sich nicht schnell genug an den Wandel anpassen. Eine neue Studie im Fachjournal "Nature"hat sich mit einem wichtigen Klimapfeiler befasst, dem Amazonas-Regenwald. Laut den Ergebnissen der Analyse könnte er schon 2050 einen Kipppunkt erreichen. Denn zehn bis 47 Prozent der Amazonaswälder dürften dann unter gewaltigem Wasserstress leiden, der zum Kollaps dieses Ökosystems führen kann.
Der Standard, 14.2.2024


Amazonas-Regenwald könnte Klima-Kipppunkt schon 2050 erreichen
Der Amazonas-Regenwald beherbergt über 40 Millionen Menschen und gut zehn Prozent aller Arten auf der Erde. Damit ist er ein wichtiger Lebensraum für die globale Biodiversität. Zudem haben die Bäume dort enorme Mengen Kohlenstoff aus der Atmosphäre gespeichert. Würden alle Bäume dort sterben und dieses CO2 wieder freisetzen, entspräche das den menschlichen Emissionen von 15 bis 20 Jahren. Unterm Strich kühlt der Amazonas-Regenwald als Kohlenstoffsenke die Erde ab und trägt maßgeblich zur Stabilisierung des Klimas bei. Doch wie lange der Regenwald diese Aufgabe noch erfüllen kann, ist fraglich. Denn der Klimawandel setzt dem Ökosystem zu, immer häufiger kommt es zu Dürren und Wasserstress. Nimmt diese Belastung weiter zu, wird der Regenwald eines Tages einen Kipppunkt erreichen und unter dem Stress zusammenbrechen, warnen Wissenschaftler seit Langem. Bislang gingen sie jedoch davon aus, dass das nicht mehr in diesem Jahrhundert passieren wird.
wissenschaft.de, 14.2.2024


Dürre, Abholzung, Waldbrände – kippt der Amazonas-Regenwald?
Der Regenwald im Amazonas-Gebiet in Südamerika gilt als weltweit größter tropischer Regenwald mit Schlüsselrolle für das Weltklima. Eine Rekorddürre, Abholzung und Brände gefährden den artenreichen Wald jedoch immer stärker. Nähert sich der Amazonas Regenwald jetzt einem Kipppunkt? Forscher halten es für möglich, dass sich ein Großteil des Waldes in eine Savanne verwandeln könnte – dafür würde schon ein Verlust von einem Viertel der Waldfläche reichen.
mdr, 04.01.20024


Kippt das System Regenwald?
Dem Amazonas-Gebiet setzt vieles zu: das Wetterphänomen El Niño, aber auch die Folgen des Klimawandels. Für die Menschen, die dort leben, sind die Folgen schon jetzt massiv. Ist die Entwicklung noch umkehrbar?
tagesschau.de, 03.12.2023


Sonntag, 11. Februar 2024

Erwin Kräutler zum 19. Todestag von Schwester Dorothy Stang

Gedanken zum 19. Todestag von Schwester Dorothy Mae Stang, NDdN.

Martyrium im tropischen Regenwald

Am 12. Februar jährt sich zum 19. Mal der Todestag von Schwester Dorothy Stang. An einem Samstag, es war noch früh am Morgen, wurde sie im Jahre 2005 im Alter von 73 Jahren mit sechs Schüssen aus nächster Nähe von gedungenen Pistoleros im Auftrag von Großgrundbesitzern an einer Nebenstraße der Gemeinde Anapu, Pará, ermordet.

Menschen, die ihr Blut für das Reich Gottes, vergossen haben, dürfen nie vergessen werden. Die Erinnerung an die Märtyrer ist Teil der Geschichte und der Liturgie unserer Kirche. Wer Märtyrer vergisst, ignoriert selbst das vom Herrn Jesus vergossene Blut. Der Tod Jesu am Kreuz ist das herzbewegendste und erschütterndste Martyrium aller Zeiten. Martyrium ist die totale und bis zu den letzten Konsequenzen verwirklichte Selbsthingabe, aus Liebe zu Gott und den Mitmenschen. „Da er die Seinen liebte, die in der Welt waren, liebte er sie bis zum Äußersten“ (Joh 13,1). Es mag verschiedene Gründe für das Martyrium geben, aber das Grundmotiv ist immer dasselbe: die größere Liebe.

In meiner Predigt beim Auferstehungsgottesdienst am 15. Februar 2005 erzählte ich, was ich über die letzten Momente im Leben von Dorothy erfahren konnte. Ihre Mörder wollten wissen, ob sie bewaffnet sei. Auf eine „Order“ der beiden Auftragskiller öffnete Schwester Dorothy ihren Stoffbeutel und zeigte ihnen, was sie als ihre Waffe bezeichnete: die Bibel. Ihre letzte Geste ist die letzte Botschaft, die Dorothy uns hinterlassen hat. Es ist das Wort Gottes, das uns auf unserem Weg inspiriert und leitet. „Die Waffen, mit denen wir kämpfen, sind nicht menschlicher Art. Es sind die mächtigen Waffen Gottes, mit denen man Festungen niederreißen kann“ (2 Kor 10,4).  Einige der Seligpreisungen des Matthäus-Evangeliums (Mt 5,1-12) beziehen sich ausdrücklich auf den Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden: „Selig sind, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten“ (V. 6), „selig sind die Barmherzigen“ (V. 7), „selig sind, die Frieden stiften“ (V. 9), „selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden“ (V. 10). Und von denen, die ihr Leben für die Gerechtigkeit, für mehr Menschlichkeit, für die Menschenwürde, für die Menschenrechte riskieren, heißt es: „Ihnen gehört das Himmelreich“.

Und die Seligpreisungen fügen dabei hinzu: alle, die Beleidigung, Verfolgung, Diffamierung und Verleumdung erleiden, sind besonders gesegnet (V. 12): „Freut euch und jubelt...“ Wie kann man sich freuen, jubeln, wenn man verfolgt wird, wenn man angegriffen wird in dem, was einem so teuer ist, der gute Namen, der gute Ruf? Aber, es gibt ein wichtiges Detail im heiligen Text. Der Grund zur Freude sind nicht die Angriffe, die Feindseligkeiten selbst, sondern das Leiden „um meinetwillen“. Darin liegt der tiefste Grund für das Martyrium, das Martyrium des vergossenen Blutes, aber auch das Martyrium als Zeugnis eines ganzen Lebens, das dem Herrn geweiht ist und seinem Reich. Dieses Martyrium setzt eine grenzenlose Leidenschaft voraus, wie Paulus im Brief an die Philipper bekennt: "Was mir aber ein Gewinn war, das habe ich um Christi willen als Verlust erkannt. (...) Seinetwegen habe ich alles aufgegeben" (Phil 3,7-8).

Ökologie: Schwester Dorothy, Stimme für den Regenwald und seine Bewohner.

Schwester Dorothy kam mir vor wie die „Stimme eines Rufers in der Wüste“ (Mk 1,3). Die Wüste ist dabei nicht ein Meer von Sand und Dünen, die sich am Horizont verlieren. Im Amazonasgebiet ist es das von Menschen geschaffene Unheil, die skrupellose „Ver-wüstung“ einer einst heilen Welt von Wald und Wasser, die seit unvordenklichen Zeiten von indigenen Völkern und später auch von Siedlern entlang der Flüsse, bewohnt war. Sie haben sich von den Früchten des Waldes ernährt und in Frieden mit der Natur, ihrer „Mit-Welt“ gelebt. Als ob von blindem Wahn besessen, um jeden Preis reich zu werden, verlieren Menschen alle Hemmungen und schrecken nicht davor zurück, Flora und Fauna, Pflanzen und Tiere aller Art und Gattungen auf Tausenden von Hektar Regenwald in einem grauenhaften Feuermeer zu vernichten.

Entwaldung und Brandrohdung werden zu Synonymen für wirtschaftliche Entwicklung. Diese Perversion beginnt mit dem Bau der Transamazonas-Straße zu eskalieren. Am 10. Oktober 1970 kommt Präsident Medici mit Ministern und anderen Honoratioren nach Altamira, um den Bau der Riesenstraße feierlich zu eröffnen, die von Osten nach Westen 3000 km quer durch Amazonien geschlagen werden sollte. Ein Paranussbaum wird vor den Augen der brasilianischen Militärregierung gefällt. Nie kann ich den beinahe hysterischen Applaus beim dumpf dröhnenden Aufprall des gefällten Baumes vergessen, der auf den bereits von jeder Vegetation entblößten rotbraunen Lehmboden ächzend einschlug. Am Wurzelstock des gefällten Urwaldriesen, dem König der Wälder, wurde eine Bronzetafel angebracht: „An diesen Ufern des Xingu, inmitten des Amazonasdschungels, beginnt der Präsident der Republik mit dem Bau der Transamazônica, in einem historischen Aufbruch zur Eroberung dieser gigantischen grünen Welt“. Der Baumstrunk ist bis heute ein Mahnmal. Die Erinnerungstafel wurde kurze Zeit nach den Feierlichkeiten abmontiert und entwendet.

Dorothy kam 1982 an den Xingu und erlebte die Raserei der großflächigen Abholzung aus nächster Nähe. Seit Beginn ihres Dienstes zugunsten der Kleinbauern und Migranten aus anderen Bundesstaaten hat sie ihre Stimme erhoben und keine Mühe gescheut, um Großgrundbesitzer, Holzfäller und Viehzüchter, die ihr sanftes Stimmchen hörten - sanft war nur ihre Stimme -, davon zu überzeugen, dass in naher Zukunft häufige Katastrophen immer größeren Ausmaßes, noch nie dagewesene Dürren, ausgetrocknete Flussarme im Amazonasgebiet und fatale Überschwemmungen in den südlichen und südöstlichen Bundesstaaten die Folge der menschlichen Aggression gegen die Natur sein werden. Den Adressaten ihrer mahnenden Worte wurde sie zum Stachel im Fleisch. Sie bildeten ein Komplott und gaben Pistoleros den Auftrag die Schwester zu erschießen. So brachten sie ihre prophetische Stimme zum Schweigen. Aber die Umweltkatastrophen, die sie vorhersagte, wurden wahr und nehmen mit jedem Jahr zu.

Amazonien für Menschen die dort leben oder für skrupellose Ausbeutung?

Was sich seit Jahrzehnten im Amazonasgebiet abspielt, basiert auf dem in den Geschichtsbüchern beschriebenen Vorgehen aller Eroberungszüge der Menschheitsgeschichte. Nach der „Entdeckung“ wird die neue „Provinz“ bis aufs Blut ausgebeutet, ohne dass sich ein Invasor verpflichtet fühlte, eine Gegenleistung zu erbringen, es sei denn in eigenem Interesse und zum eigenen Vorteil. So ähnlich wird bis heute Amazonien als "Provinz" angesehen: eine Provinz mit ungeahntem Reichtum an Bodenschätzen, eine Provinz voll von Edelhölzern aller Arten, eine Provinz, deren Flüsse für die Energiegewinnung aufgestaut werden und schließlich eine letzte Region Brasiliens, die für die Landwirtschaft, Viehzucht und den Anbau von Soja niedergebrannt und so „urbar“ gemacht werden kann. Seither gibt es Konflikte mit den indigenen Völkern und später mit den Bauernfamilien und Bewohnern entlang der Flussufer. Sie dauern bis heute an und kosteten und kosten immer noch viele Menschenleben.

 In den ersten beiden Regierungen von Luis Inácio Lula da Silva wurden moderatere Brandrodungsdaten und Abholzungsquoten veröffentlicht, die nicht immer der Realität entsprachen. Mehr und mehr aber begann die ökologische Frage zum Politikum zu werden und die Zahl der Aktivisten auf der internationalen Bühne und Verteidiger des tropischen Regenwaldes stieg von Jahr zu Jahr. Klimawissenschaftler wiesen nach, dass der tropische Regenwald Amazoniens von enormer Bedeutung für das Klimagleichgewicht des Planeten ist. Auf Vorwürfe aus dem Ausland, Brasilien kümmere sich nicht oder zu wenig um den Umweltschutz in Amazonien, reagierte Lula zunächst irritiert: „Wir wollen der Welt zeigen, dass sich niemand mehr um unseren Wald kümmert als wir selbst. Und wir lassen nicht zu, dass irgendwelche Ausländer ihre Nasen in Angelegenheiten stecken, die sie nichts angehen. Wir wissen selbst, welche Art von Entwicklung Amazonien braucht!“. „Dein Wort in Gottes Ohr!“ dachte ich mir und hoffte zu Gott, dass dem Versprechen, sich endlich um die Wälder zu kümmern, auch Taten folgen.

2018 kam dann Jair Messias Bolsonaro an der Regierung. Eine Katastrophe für die Einhaltung der geltenden Umweltgesetzgebung! Bolsonaro begünstigte die Expansion der Viehzüchter und den Holzraubbau in Amazonien, ja er genehmigte sogar das Unwesen tausender illegaler Goldgräber in indigenen Gebieten. Während der Pandemie plagiierte er das Motto für Amazonien seines „Umweltministers“ Ricardo Salles: „Freier Eintritt für das Vieh!“.

Lula ist seit 2022 wieder brasilianischer Präsident. Gleich in seiner Antrittsrede versprach er „Null Abholzung bis 2030“ und wiederholte dieses Versprechen auch auf dem Umweltgipfel in Dubai: „Unser Ziel ist es, Null Abholzung im Amazonasgebiet und Null Treibhausgasemissionen in der Energiematrix zu erreichen sowie die Regenerierung von degradiertem Weideland zu fördern“. In Bezug auf die indigenen Völker fügte er hinzu: „Niemand kennt unsere Wälder besser und kann sie effektiver verteidigen als diejenigen, die seit Urzeiten dort leben. Jedes für die Indigenen Völker demarkierte Land ist ein neues Umweltschutzgebiet!“. Lula erhielt zu Recht Beifall, auch von der internationalen Gemeinschaft, weil er schließlich der von seinem Vorgänger verschuldeten immer weiter schwelenden Zerstörung des Regenwaldes Einhalt zu bieten versprach.

Dennoch bleiben zwei Bedenken bestehen:

1. Null Abholzung bis 2030? Diese Zeitspanne ist viel zu lang. Wenn die Abholzung und Brandrodung im gleichen Tempo wie 2023 weitergehen, werden bis 2030 weitere Millionen Hektar Regenwald vom Angesicht der Erde verschwunden sein. Allein zwischen Januar und November 2023 wurden 93.945 Brände im brasilianischen Amazonasgebiet gemeldet. Auch wenn im Vergleich zu den 11 Monaten des Jahres 2022 (112.027) ein Rückgang von 16 Prozent zu verzeichnen ist, so waren die Brände, die im Amazonasgebiet loderten, dennoch apokalyptisch. Jeder, der in der zweiten Oktoberhälfte und der ersten Novemberhälfte in Altamira, Pará, war, erinnert sich mit Schrecken an diese Wochen, in denen die Menschen zusätzlich zu den extrem heißen Temperaturen noch an schlechter Atemluftqualität zu leiden hatten, die vor allem für Kinder, ältere Menschen und schwangere Frauen gesundheitsschädlich ist. Und Altamira ist zwar die größte Gemeinde im Amazonasgebiet und in Brasilien (159.500 Quadratkilometer), aber dennoch nur ein Teil davon!

2. Auch wenn Lula die Finanzmittel für das IBAMA (Brasilianisches Institut für Umwelt und erneuerbare natürliche Ressourcen) aufgestockt hat, um Holzfäller und Viehzüchter besser zu überwachen und sie an der illegalen Abholzung Amazoniens zu hindern, wird all das Geld nicht den gewünschten Erfolg bringen, wenn im Kongress weiterhin der Geist des „Freier Eintritt für das Vieh!“ herrscht. Zudem ist in der Umweltgesetzgebung von einem „illegalem“ Holzeinschlag die Rede, was impliziert, dass es einen „legalen“ Holzeinschlag gibt, der durch die Umweltgesetzgebung gedeckt ist. Das ist ein fataler Widerspruch! „Null Abholzung“ kann keinen „legalen“ Holzeinschlag erlauben. Großflächiges Abholzen oder Brandrodung in Amazonien sind "Umweltverbrechen", die strafrechtlich streng zu ahnden sind.
 
Bei allen Konflikten geht es um die brasilianische Umweltgesetzgebung und die Bundesverfassung selbst, die die Existenz von Gebieten außerhalb des kapitalistischen Marktes garantiert, zum Beispiel indigene Gebiete (Art. 232 und 233) oder Nationalparks. Und genau gegen diese verfassungsrechtlichen Vorgaben erheben sich das Agrobusiness und seine Verbündeten immer wieder. Ihre Parole lautet: „Kein Land außerhalb der Marktwirtschaft! Alles Land muss genutzt und verwertet werden, muss produzieren, um Einkommen und Gewinne zu garantieren“. Diejenigen, die das Gegenteil behaupten, sagen: „Alles Land ist ein Geschenk Gottes. Indigene Völker, Quilombolas, Bauernfamilien und Flussbewohner haben das Recht auf ihr angestammtes Gebiet, den heiligen Boden ihrer Mythen und Riten und ihrer eigenen Existenz, die Garantie für ihr Leben. Dieses angestammte Land muss daher geschützt werden und darf nicht einer brutalen, skrupellosen Ausbeutung und Plünderung anheimfallen, auch im Hinblick auf künftige Generationen“. Wer diese These verteidigt, läuft immer Gefahr, als Feind des Fortschritts und der Entwicklung geächtet und im schlimmsten Fall wie Schwester Dorothy und so viele andere im Amazonasgebiet „beseitigt“ zu werden, weil sie sich gegen die Interessen und die Gier derjenigen stellen, die Land, Wald, Wasser und sogar die Luft als bloße Ware für das Agrobusiness, für Industrie und Klein- und Großunternehmen betrachten, zum Nachteil anderer sozialer Schichten und fast immer unter Missachtung die elementarsten Regeln des Umweltschutzes.
 
Frauen als Protagonistinnen in Gesellschaft und Kirche

Ich bin seit fast 60 Jahren am Xingu, und in den letzten sechs Jahrzehnten gab es große Mühen im Einsatz für die Menschenwürde und die Menschenrechte. In all den verschiedenen Formen des Engagements war eine Konstante unweigerlich zu beobachten: es waren Frauen, die an vorderster Front standen. Als Altamira wegen der grauenvollen Verbrechen an Kindern und Jugendlichen eine schreckliche Zeit erlebte, trauerten die Frauen nicht nur mit den Familien um die betroffenen Kinder, sondern gründeten das „Komitee zur Verteidigung der Kinder und Jugendlichen von Altamira“. In Altamira gab es einen Arbeiterkreis und eine Gewerkschaft der Landarbeiter. Als diese Organismen immer mehr zu wünschen übrigließen, ergriffen Frauen die Initiative und gründeten die "Bewegung der Frauen vom Land und aus der Stadt". Die überwiegende Mehrheit im Fürsorgerat in allen Gemeinden am Xingu und an der Transamazonasstraße sind Frauen.

Im Bistum Xingu entstanden nach dem bahnbrechenden Treffen der Bischöfe Amazoniens in Santarém 1972 Hunderte von kirchlichen Basisgemeinden. Die meisten von ihnen wurden und werden von Frauen geleitet und koordiniert. Das Gleiche gilt für Pfarrgemeinderäte, Pastoralräte und Liturgieteams. Ohne Frauen würde es unsere Kirche in vielen Regionen gar nicht geben.

Vor allem im Zusammenhang mit dem Bau des Staudamms von Belo Monte habe ich mich oft gefragt: „Was ist der tiefe Grund für den auffallenden weiblichen Protagonismus bei all den Protesten, Demonstrationen und Aufmärschen? Tatsache ist, dass die Männer von Altamira und den umliegenden Gemeinden vom Geldregen bei Tag und Nacht träumten und von einer deutlichen Erhöhung der Chancen auf gut bezahlte Arbeitsplätze. Erst spät kam die Ernüchterung nach den ausgeträumten Träumen, die nicht einmal ansatzweise in Erfüllung gingen. Die Frauen nahmen von Anfang an eine viel kritischere Position zum Wasserkraftwerk ein. Es dauerte nicht lange bis sie merkten, dass die vielen Regierungsversprechen, die von IBAMA und FUNAI geforderten Grundbedingungen für den Bau allesamt vor dem „ersten Spatenstich“ zu erfüllen, nur dazu dienten, die Bevölkerung zu beruhigen oder bei Laune zu halten. Fortan sprachen die Frauen nicht mehr von Belo Monte, sondern nannten das Staudammprojekt "Belo-Monster". Und sie beließen es nicht etwa bei einem hinter vorgehaltener Hand ausgesprochenen „Wir sind dagegen!“, sondern sie benannten und beklagten ohne Umschweife die Übel, die über die Bevölkerung von Stadt und Land hereinbrachen: ein sterbender Fluss und entwaldete Inseln, abertausende Fische verendeten, Umweltschäden, Artensterben, Gewässerverschmutzung und Bodenkontamination; dazu in der Stadt: fehlende Gesundheitszentren und medizinische Versorgung, unzureichende Schulen, höhere Lebensmittelpreise, fehlende sanitäre Grundversorgung, offene Abwasserkanäle, eine Zunahme der Kriminalität, Lärmbelästigung und andere Dinge, die für das Wohlbefinden der Menschen und eine angemessene Infrastruktur für das städtische Leben notwendig sind.

Ich bin überzeugt, dass Frauen, ob sie biologisch gesehen nun Mütter sind oder nicht, „intuitiv“ ihre Fürsorge stets dem „Nachwuchs“ widmen. Und das ist wohl der tiefste Grund, warum sie sich im sozialen und humanitären Bereich so selbstlos einsetzen. Sie erspüren Gefahren und Risiken, Bedrohungen und Gewalt, aber erkennen auch Freuden und anerkennen den Segen gemeinsamen Wirkens zum Wohle der Allgemeinheit. Es handelt sich hier um die Verflechtung des Spirituellen und Emotionalen mit dem Rationalen, die Intuitionen hervorbringt, die über die logische Verbindung von Ursache und Wirkung oder die Schlussfolgerung aus den Prämissen eines aristotelischen Syllogismus hinausgehen. Oder anders ausgedrückt: die Frauen vom Xingu denken und urteilen wohl mehr mit dem Herzen!

„Dorothy vive!“

Dorothy ist tot. Aber ihre Schwestern von Notre Dame, die mit ihr in Gemeinschaft lebten, setzen Dorothys Weg fort und widmen sich den Menschen, die Dorothy nicht ihrem Schicksal überlassen wollte. Am 2. Februar 2005, zehn Tage vor ihrer Ermordung, sagte sie zu einem Journalisten – ich war dabei und habe das selbst gehört: „Ich weiß, dass sie mich töten wollen, aber ich werde nicht weglaufen. Mein Platz ist hier, an der Seite dieser Menschen, die ständig von Leuten gedemütigt werden, die sich für mächtig halten.“  Heute sind es zudem Laien, Frauen und Männer, junge und alte, die sich der edlen Sache widmen, für die Schwester Dorothy nicht zögerte, ihr Leben einzusetzen. Die Begeisterung kommt in dem Refrain zum Ausdruck, der Jahr für Jahr und immer wieder von den Menschen in den Gottesdiensten anlässlich ihres Todestages wiederholt wird: "Dorothy vive, vive para sempre!“ (Dorothy lebt, sie lebt weiter!).
 
Altamira, 12. Februar 2024

       Erwin Kräutler
Bischof em. am Xingu




Reflexões para o 19º aniversário de morte da Irmã Dorothy Mae Stang. Artigo de Dom Erwin Kräutler
"Irmã Dorothy chegou 1982 na Prelazia do Xingu e viu de perto o frenesi das derrubadas em grande escala. E desde que chegou falou e não mediu esforços, querendo convencer a quem ouvia sua vozinha mansa – mansa era apenas sua voz – de que, num futuro bem próximo, frequentes calamidades em cada vez maiores proporções serão consequência das violentas agressões de homens insensatos à natureza", escreve Dom Erwin Kräutler, bispo emérito do Xingu.
Instituto Humanitas Unisinos,15 Fevereiro 2024