NZZ, 5.2.2013
Im Dienste Gottes und der Indianer
Für den Indigenen-Missionsrat in Brasilien beginnt die Verkündung mit dem Schutz der Indianer. Der Kampf für deren Recht auf Land und kulturelle Eigenständigkeit ist nötiger denn je.
Erwin Kräutlers Mission ist lebensgefährlich. Immer wieder erhält er Morddrohungen, weil er sich mit den Mächtigen der Holzindustrie, des Agrobusiness und des Energiesektors anlegt. 1987 wurde er bei einem Mordanschlag schwer verletzt. Seither lebt der 73-jährige Bischof unter Polizeischutz. Seinem Kampf für den Schutz des Regenwaldes und die Rechte der Indigenen hat dies alles keinen Abbruch getan. Es sei seine Aufgabe, die physisch und kulturell bedrohten Völker und ihren Lebensraum zu schützen, sagt Kräutler, der 2010 für sein Engagement mit dem Right Livelihood Award ausgezeichnet wurde.
Stimme der Unterdrückten
Als Erwin Kräutler 1965 als frisch geweihter Priester von Vorarlberg nach Brasilien kam, um am Rio Xingu im Amazonas-Gliedstaat Pará seine Missionstätigkeit aufzunehmen, fand er ein Paradies vor. «Ich traf auf ein unwahrscheinlich liebes Volk, mit dem ich mich sofort identifizieren konnte. Und ich war beeindruckt vom Regenwald, der damals noch intakt war.» Bald musste Kräutler allerdings feststellen, wie bedroht dieses Paradies ist. Der Bau der ersten Fernstrassen und der berühmten Transamazônica ab 1970 trieb Holzfäller, Rinderzüchter und Goldsucher in die Region. Die Ausbeutung begann, und es kam zu schrecklichen Genoziden an der Urbevölkerung. Eine schleichende Bedrohung für die Indianer ging zudem direkt vom Staat aus, der kein Recht auf kulturelle Vielfalt für die indigenen Völker vorsah und sie somit zu «normalen» Brasilianern machen wollte.
Es war in dieser Zeit, als die brasilianische Bischofskonferenz beschloss, sich auf die Seite der Indianer zu stellen. 1972 gründete sie den Indigenen-Missionsrat, den Conselho Indigenista Missionário (Cimi). Er sollte den Völkern fortan zu einer gemeinsamen Stimme im Kampf für ihre Rechte und ihre Autonomie verhelfen. Der Cimi entstand aus einem befreiungstheologischen Verständnis heraus. Die Befreiungstheologie, die in den sechziger Jahren in Lateinamerika entwickelt wurde, versteht sich als «Option für die Armen» und orientiert sich an der Situation der unterdrückten Bevölkerung (siehe Zusatz). «Wir glauben an den Gott, der herabsteigt und den Schrei seines Volkes hört, um es aus der Sklaverei zu befreien», erklärt Kräutler in Anlehnung an das Buch Exodus. «Im Zweiten Vatikanischen Konzil wurde festgehalten, dass die Kirche die Sendung habe, allen Menschen die Liebe Gottes zu verkünden», fährt er fort. «Doch wie sollen wir verkünden, wenn die Leute am Abgrund stehen und um ihr Überleben kämpfen?» Zuerst müssten die Menschen aus ihrem Elend befreit werden.
Elend ohne Ende
Tatsächlich gelang es dem Cimi in den achtziger Jahren – Erwin Kräutler war damals schon Bischof der Prälatur Xingu und Präsident des Cimi –, Rechte für die Indianer in der Verfassung zu verankern. Die Verfassungsartikel anerkennen die kulturelle Autonomie der indigenen Völker, was deren Recht auf ihre Territorien einschliesst. Dies sei bis heute wohl eine der grössten Errungenschaften des Cimi, sagt Kräutler.
Mit der Umsetzung dieser Rechte tut sich der brasilianische Staat allerdings bis heute schwer. «Wir hatten gehofft, das würde sich mit der Wahl von Lula da Silva ändern, doch inzwischen hat sich gezeigt, wie indianerfeindlich diese Regierung ist. Es wird alles getan, um die Rechte zu umgehen.» Kräutler spielt auf die Wachstumsgläubigkeit Brasilias und die Politik der Grossprojekte an. Eines dieser Grossprojekte befindet sich direkt vor seiner Haustür am Rio Xingu, wo mit dem Staudamm von Belo Monte das drittgrösste Wasserkraftwerk der Welt entsteht. Etliche Indianerdörfer am Fluss und ihre Bewohner stehen vor einem radikalen Umbruch, der mit dem Verlust ihrer Identität enden könnte.
Als mindestens so grossen Brennpunkt nennt Kräutler den gewaltsamen Landkonflikt in Mato Grosso do Sul. Die dort ansässigen Guaraní-Indianer leben eingepfercht in kleine Reservate oder in tristen Camps am Strassenrand. Wöchentlich kommt es zu Selbstmorden. Gleichzeitig sind die Indianer der Gewalt der Grossfarmer ausgesetzt, mit denen sie in Konflikt um die Landrechte stehen. «Ich habe viel Elend gesehen», erzählt der Bischof, «doch die Situation der Guaraní lässt mein Herz bluten.»
Missionar und Helfer
Wo es brennt, sind auch die Leute des Cimi. 418 vorwiegend brasilianische Missionare in 112 Equipen stehen zurzeit in Indianerdörfern im ganzen Land im Einsatz. Bei den Missionaren handelt es sich um Laien und um Religiöse, die sich solidarisch in den Dienst der Indianer stellen. Dabei gilt der Grundsatz, nicht für, sondern mit den Indianern etwas zu tun. Die Missionare leben mit den Ureinwohnern, erleben ihren Alltag und ihre täglichen Sorgen und leisten Hilfe und Beratung, sofern dies nötig und von den Indianern erwünscht ist. Und sie sorgen dafür, dass eingegriffen wird, wenn die Rechte der Indigenen bedroht sind. Zudem leisten sie Öffentlichkeitsarbeit, wo sonst niemand hinschaut. Die jährlichen Berichte des Cimi über die Gewalt an der indigenen Bevölkerung Brasiliens und die Menschenrechtssituation gelten als eine der wenigen verlässlichen Quellen in diesem Bereich. Eine wichtige Funktion des Cimi besteht auch darin, die Vielzahl von Völkern und Stämmen miteinander zu vernetzen, um gemeinsame Positionen zu formulieren.
Der Cimi ist zwar nicht die einzige Organisation, die sich für die Indianerrechte einsetzt, keine andere wird jedoch gleichermassen respektiert in Brasilien. Immerhin ist der Missionsrat Teil der katholischen Kirche. Und diese ist in Brasilien trotz einer schleichenden Abwanderung vieler Katholiken zu evangelikalen Kirchen immer noch sehr präsent und einflussreich. Mit über 130 Millionen zählt Brasilien mehr Katholiken als jedes andere Land. Ihr Anteil an der Bevölkerung beträgt fast 70 Prozent. Obwohl der Cimi Teil dieser mächtigen katholischen Kirche ist, vertritt er die Interessen der Schwachen. Das macht ihn populär. Erleichternd komme hinzu, sagt Kräutler, dass der Begriff der Mission in Brasilien nicht derart negativ belastet sei wie in Europa.
Die humanitären Aufgaben haben Priorität für den Cimi. Parallel dazu erfolgt die missionarische Arbeit, zu welcher sich der Missionsrat verpflichtet hat. Die Missionare hätten aber nicht die Aufgabe, den Indianern den christlichen Glauben aufzuzwingen, erklärt Kräutler, der seit 2006 zum zweiten Mal den Cimi präsidiert. Vielmehr gehe es darum, mit ihnen in einen Dialog zu treten. «Die Völker haben einen eigenen Glauben. Wir müssen zuerst lernen, was sie glauben. Dann beginnt der interreligiöse Dialog.» Während der Dialog mit anderen Weltreligionen wie beispielsweise dem Islam aus Sicht der Kirche selbstverständlich sei, habe er mit den Naturreligionen keine Tradition, stellt Kräutler fest. Dabei gehe völlig vergessen, wie bereichernd dieser sein könne – für beide Seiten.
Paradies in Gefahr
Nicht immer gestalten sich das Zusammenleben und der Dialog derart harmonisch. Mit dem durch wirtschaftliche Interessen steigenden Druck von aussen hat sich das Umfeld vieler indigener Völker und damit der Missionare verändert. Erwin Kräutler nennt als Beispiel erneut das Kraftwerk von Belo Monte: «Das für Bau und Betrieb des Kraftwerkes zuständige Konsortium wickelt die Indianer um den Finger. Sie erhalten Nahrungsmittel, Schnellboote, Benzin und mehr», erzählt er. «Plötzlich haben sie alles und begreifen nicht, warum wir sie vor dem Projekt und den Methoden des Konsortiums warnen.» Das führe zu Meinungsverschiedenheiten unter den Indianern und mit den Missionaren.
Die Spannungen werden in den kommenden Jahren weiter zunehmen, denn Brasilien setzt alles aufs Wachstum. Die Energie dafür will sich das Land in Amazonien holen. Immer offensichtlicher wird, dass die Urvölker in den Augen der Regierung und des Grosskapitals als Hindernis gelten. Das Engagement des Cimi gleicht dem Kampf Davids gegen Goliath. Dennoch ist er nötiger denn je, soll das kulturelle Erbe der Urvölker Brasiliens erhalten bleiben. Die Durchsetzung der Indianerrechte allein reiche allerdings nicht aus, meint Erwin Kräutler. Das Land müsse den Entwicklungsbegriff überdenken. Entwicklung bedeute nicht, das Bruttoinlandprodukt zu steigern, sondern die Lebensqualität der Bevölkerung.
Wie seine Aufrufe bei denen ankommen, die das Sagen haben, musste der Bischof am eigenen Leibe erfahren. Das hat ihn pessimistisch gemacht. Wenn er an die Zukunft denkt, sieht er schwarz. Er wage es nicht, sich auszudenken, wie es hier in fünfzig Jahren aussehen werde. Amazonien und seine Bewohner seien in Gefahr, sagt der Bischof. «Ich habe apokalyptische Albträume.»