Mittwoch, 13. Dezember 2023

Bischof Kräutler würdigt Leonardo Boff zum 85er


Leonardo Boff – zum 85. Geburtstag

„Löscht den Geist nicht aus!“

„Löscht den Geist nicht aus“ (1 Thess 5,19), schreibt Paulus im Winter 50/51 von Korinth aus an die Gemeinde von Thessaloniki, der heutigen Hauptstadt des griechischen Mazedonien. Nach Philippi ist sie die zweite von ihm gegründete christliche Gemeinde in Europa. Dieser Appell findet sich in einer Serie von fünfzehn Ratschlägen, die der Apostel als Grundlage für eine lebendige Gemeindepraxis empfiehlt.

Der Österreichische Katholikentag in Salzburg, vom 1. bis 3. Juni 1962, stand unter diesem Leitwort. Karl Rahner hielt damals eines seiner denkwürdigsten Referate. „Uns alle muss die Sorge quälen, dass wir es sein könnten, die den Geist auslöschen“ gab er zu bedenken.

Warum beginne ich einen Beitrag zum 85. Geburtstag meines langjährigen Freundes Leonardo Boff mit dieser Einleitung? Was hat das Pauluswort mit ihm zu tun? Es ist schlicht meine Überzeugung, dass dieser Appell des Apostels das Werk Leonardos besser charakterisiert als irgendeine andere Überschrift. Seit Beginn seiner Publikationen in den

60er Jahren bis heute war und ist es sein Anliegen, den „Geist der Wahrheit“ zu verkünden, „in dessen Kraft ‚auch ihr Zeugnis ablegen sollt‘ (Joh 15, 27), löscht ihn nicht aus!“. So schrieb Papst Johannes XXIII an die 1962 „in Salzburg versammelten Männer und Frauen sowie die uns teure Jugend“. Und wie Karl Rahner bei seinem Referat ganz unverhohlen über einen „Konservativismus“ klagte, „der nicht Gottes Ehre und Lehre und Stiftung in der Kirche verteidigt, sondern sich selbst, die alte Gewohnheit, das Übliche, das schon Gewohnte“ , so nahm sich auch Leonardo nie ein Blatt vor den Mund. Seine mutige Haltung entfachte allerdings, insbesondere nach dem Erscheinen seines Buches „Kirche: Charisma und Macht“ (1981), das Missfallen kirchlicher Instanzen. Einer seiner ehemaligen Lehrer belegte ihn sogar mit dem Vorwurf der Häresie. Leonardo wurde nach Rom zitiert. Die damals von Kardinal Joseph Ratzinger geleitete Glaubenskongregation verordnete ihm, für ein Jahr, Rede- und Lehrverbot. Diese Verfügung wurde mit dem Doppelwort „Bußschweigen“ umschrieben. „Buße“ und „Schweigen“! War also Leonardo nun aufgefordert, im Büßergewand ein stummes Dasein hinter den Klostermauern zu verbringen? Nicht einmal die brasilianischen Kardinäle Paulo Evaristo Arns und Aloísio Lorscheider, beide Franziskaner wie Leonardo, konnten diese Maßnahme verhindern. Leonardo zog leider Konsequenzen, die ich bis heute bedauere. Dennoch kehrte er seiner Kirche nie den Rücken. Er schrieb weiterhin Bücher und Artikel, dozierte Ethik und Spiritualität an einer Hochschule in Rio de Janeiro und stand oft und oft für Vorträge und Seminare in Brasilien und im Ausland zur Verfügung. Bis heute erhalte ich, wie auch andere Bischöfe, mehrmals im Monat per E-Mail seine Meditationen oder Kommentare zu aktuellen kirchlichen Themen und Ereignissen in Brasilien und auf Weltebene.

Befreiungstheologie und „strukturelle Sünde“

Wer den Namen Leonardo Boff hört oder liest, verbindet ihn sofort mit der „Befreiungstheologie“, die in Lateinamerika ihren Ursprung hat. Leonardo ist tatsächlich einer ihrer wichtigsten und bekanntesten Vertreter.

Die Befreiungstheologie ist biblisch, ist in der Heiligen Schrift grundgelegt. Gott hat sich als ein befreiender Gott geoffenbart. Der Name Jesu bedeutet: Gott heilt, Gott befreit, „denn er wird sein Volk von seinen Sünden erlösen“ (Mt 1,21). „Erlösen“ und „befreien“ sind Synonyme. Die Befreiungstheologie will betonen, dass Gott nicht ein Gott in weiter Ferne ist: „Brüder – überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen“ meint Schiller in seiner „Ode an die Freude“, die Beethoven im vierten Satz der IX. Symphonie vertont hat. Gott ist Immanu- El – Mit uns Gott! Mit uns unterwegs, an unserer Seite. „Nähme ich die Flügel des Morgenrots, ließe ich mich nieder am Ende des Meeres, auch dort würde deine Hand mich leiten und deine Rechte mich ergreifen“ (Ps 139,9-10). Gott offenbart sich in der Geschichte, „befreit“ sein Volk aus Sklaverei und Unterdrückung (vgl. Ex 3,7-8). „Mit dir erstürme ich Wälle, / mit meinem Gott überspringe ich Mauern“ (2 Sam 22,30) singt David in seinem Dankgebet „Herr, du mein Fels, meine Burg, mein Befreier“ (2 Sam 22,2). In der Synagoge von Nazareth zitiert Jesus den Propheten Jesaja: „Der Geist des Herrn ruht auf mir, denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe (…) damit ich die Zerschlagenen befreie und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe“ (Lk 4,18-19).

Bis hier alles in Ordnung, meinen die Gegner der Befreiungstheologie. Aber diese Theologie spricht von einer „strukturellen Sünde“ und vergisst dabei, dass jede Sünde eine „persönliche Sünde“ ist, so ihr Urteil. Dass Sünde ein wissentliches, entschlossenes Handeln oder Nichthandeln wider die Liebe und die Zuwendung Gottes und wider den Nächsten ist, hat die Befreiungstheologie nie bestritten. Sie will jedoch nicht einen strafenden, rächenden, mit Fluchworten bis in die dritte und vierte Generation (vgl. Ex 34,7) heimzahlenden Gott verkünden. Jesus hat uns vom „Fluch des Gesetzes“ befreit (vgl. Gal 3,13). Neben dieser „persönlichen Sünde“ existiert aber auch die Sünde, die Leonardo Boff als „strukturelle Sünde“ bezeichnet.

Selbstverständlich hat die Kirche nicht die Aufgabe, zu detaillieren, wie sich die Welt in sozialer, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht auszurichten hat. Die Kirche „ist von Christus gesandt, die Liebe Gottes allen Menschen und Völkern zu verkünden und mitzuteilen“ (Ad gentes, 10). Und diese Verkündigung und Mitteilung der Liebe Gottes hat die prophetische Komponente, alle Formen struktureller Sünde und Übel anzuprangern, die dieser Liebe Gottes widersprechen. „Löscht den Geist nicht aus“ bedeutet gerade hier, die prophetische Dimension der Kirche beherzt wahrzunehmen und nicht aus Furcht auszuklammern, die Kirche könnte als politische Akteurin verschrien werden. Schweigen, wenn es um die Verteidigung der Menschenrechte und -würde geht, kommt einer politischen Rechtfertigung der strukturellen Sünde gleich. Alle Märtyrer Lateinamerikas waren Opfer ihres heroischen Mutes, ihre Mitmenschen vor Unrecht und die Mit-welt vor ihrer Zerstörung zu schützen, angefangen vom heiligen Oscar Arnulfo Romero, Erzbischof von San Salvador (+ 1980) bis zu den Märtyrern unseres Bistums am Xingu Hubert Mattle (+ 1995), Ademir Alfeu Federicci (+2001), Dorothy Mae Stang (+2005).

Was ist also oder worum geht es bei dem von Leonardo Boff geprägten Begriff der „strukturellen Sünde“? Bei der II. Lateinamerikanischen Bischofskonferenz in Medellín (Kolumbien) vollzogen die Kirchen Lateinamerikas 1967 einen Standortwechsel und erklärten ihre Option für die Armen. „Diese Haltung wird sich konkretisieren, wenn wir im Kampf gegen eine unerträgliche Situation, in der sich die Armen so oft befinden, Ungerechtigkeit und Unterdrückung anprangern“ (DM 14,10). In Medellín hat die Kirche nach den Ursachen der tragischen Realität gefragt. „Das Elend, als kollektive Tatsache, ist eine Ungerechtigkeit, die zum Himmel schreit“ (DM 1,1), heißt es im Schlussdokument bereits im ersten Absatz und erklärt die „fehlende Solidarität als Ursache wahrhafter Sünden auf individueller und gesellschaftlicher Ebene, die sich in den für Lateinamerika charakteristischen ungerechten Strukturen zeigen“ (DM 1,2).

Armut, Not und Tod sind vielfach die Folge wirtschaftlich und politisch ungerechter Strukturen, die von Regierungen und Wirtschaftsverantwortlichen dauerhaft aufrechterhalten werden. „Sünde“ ist zwar kein soziologischer oder juridischer Begriff, aus theologischer Sicht, aber, sind ungerechte soziale und wirtschaftliche Strukturen „sündhaft“.

Wenn die Schere zwischen reichen und armen Nationen immer mehr auseinanderklafft, wenn laut Statistik der Weltbank zur globalen Armut weltweit rund 70 Millionen Menschen von extremer Armut betroffen, also vom „Festmahl des Lebens“ ausgeschlossen sind, „zu dem alle Menschen von Gott eingeladen sind“, ist das eine „strukturelle Sünde“.

Es ist eine „strukturelle Sünde“, wenn Brasiliens Nationalkongress Gesetze erlässt, die es Großgrundbesitzern, Bergwerksgesellschaften, Holzhändlern und Goldsuchern ermöglichen, „legal“ in indigene Gebiete einzudringen, indigene Völker von Grund und Boden zu vertreiben und sie ihrer Heimat zu berauben. Nicht „An den Flüssen Babylons“ (Ps 137,1), sondern „in den Favelas oder entlang der Hauptstraßen Lateinamerikas sitzen wir in Schmutz und Elend und weinen, wenn wir an die Heimat denken, aus der wir vertrieben wurden“. Mit „Va, pensiero“ beginnt der vom Psalm 137 inspirierte Chor aus der Oper Nabucco von Giuseppe Verdi. Indigene Völker können bis heute, wie die hebräischen Sklaven im babylonischen Exil schluchzend die Worte singen: „O mia patria sì bella e perduta! O membranza sì cara e fatal!“ .

Es ist eine „strukturelle Sünde“, wenn Milliarden und Abermilliarden in die Rüstungsindustrie fließen, während der Welthunger-Index die Hungerlage 2023 in 43 Ländern als ernst oder sehr ernst einstuft. Jesus identifiziert sich mit den Armen und die erste und grausamste Folge der Armut ist anhaltender Hunger (vgl. Mt 25,31-46).

Es ist die Folge einer „strukturellen Sünde“, wenn bei der 23. Klimakonferenz in Dubai der fehlende Wille der Großmächte, aber auch kleinerer Nationalstaaten, wieder einmal sichtbar wird, endlich Maßnahmen zu treffen, um der Klimaerwärmung entgegenzusteuern. Die Häufigkeit von Extremwetterereignissen sind inzwischen der untrügliche Beweis, dass es sich bei der Klimaerwärmung um ein „anthropogenes Phänomen“ (L. Boff) handelt, also um die Folge, der von Menschen bewirkten, schädigenden Eingriffe in die Natur.

Kirchliche Basisgemeinden

Medellín regte die lateinamerikanischen Kirchen an, zu „Kirchen der Armen und Unterdrückten“ zu werden. Das vom II. Vatikanischen Konzil (1962-1965) entflammte neue Pfingsten fängt Feuer. Die befreiende Dimension des Evangeliums kommt zum Tragen. Unzählige kirchliche Basisgemeinden entstehen auf dem ganzen Kontinent. Die Kirche der Armen wird zur Realität. Die Befreiungstheologie übernimmt die an der Basis gelebte Praxis und Erfahrung in ihre Reflexion und vertieft ihren Glaubensgehalt. Eine Kirche entfaltet sich, die auf Dialog zwischen Glauben und Leben, zwischen Evangelium und Gerechtigkeit, gründet. Glauben und Leben sind nicht zwei Paar Schuhe!

Als ich 1985 das erste Mal dem Papst meinen „Ad limina“-Besuch abstattete, fragte mich Johannes Paul II, wie viele Priester und Ordensleute am Xingu arbeiten. Er zeigte sich verwundert über die geringe Zahl, die ich im verriet. Da sagte ich: „Es gibt aber auch die Laien!“ Er reagierte prompt mit: „Basisgemeinden“. Ich weiß nicht, woher ich den Mut genommen habe, ihn zu korrigieren: „Santo Padre, Kirchliche Basisgemeinden, denn sie sind der Ort, an dem die Kirche lebt“. Im Laufe des 20. Jahrhunderts bis in die 60er Jahre wurden alle möglichen Impulse religiöser Vereinigungen aus Europa und Nordamerika nach Lateinamerika importiert. Wenn auch irgendwie den örtlichen Umständen angepasst, waren sie keine auf heimischen Boden gewachsene Gemeinschaften. Sie trugen alle so etwas wie ein Etikett: „Made in Spain“, „Made in Italy“, „Made in Germany“ oder „Made in USA“. Die kirchlichen Basisgemeinden sind jedoch eine genuin lateinamerikanische Art, Kirche zu sein. In Amazonien schossen sie nach dem Konzil, nach Medellín und insbesondere nach der wegweisenden Bischofsversammlung 1972 im amazonischen Santarém, wie Pilze aus dem Boden. Sie erinnern an die Apostelgeschichte: „Sie hielten an der Lehre der Apostel fest und an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und an den Gebeten“ (Apg 2,42). Nur vom „Brechen des Brotes“, der Eucharistiefeier, dieser zentralen Feier einer jeden christlichen Gemeinde, sind die kirchlichen Basisgemeinden monate- wenn nicht gar jahrelang ausgeschlossen. Wir wollten bei der Amazonas-Synode hier eine Wendung herbeiführen. Trotz Zweidrittelmehrheit bei der Abstimmung wurden unsere Vorschläge nicht berücksichtigt, ja im postsynodalen Schreiben des Papstes nicht einmal erwähnt. Kirchliche Basisgemeinden kennzeichnen sich durch vier Dimensionen: die samaritanische Dimension – gegenseitige Hilfe und Unterstützung, wo immer Not und Elend herrscht; die prophetische Dimension – Hinterfragen, Identifizierung und Anprangerung der „strukturellen Sünden“, Einsatz für Recht und Gerechtigkeit und Erhaltung der Schöpfung; die familiäre Dimension – die Kirche wird als Familie und nicht als eine mehr oder minder anonyme Versammlung erlebt; die feiernde, betende, kontemplative Dimension – Liturgie des sonntäglichen Wortgottesdienstes, Bibelrunden, Meditation und persönliches Gebet.

„Löscht den Geist nicht aus“ ist gerade auch im Hinblick auf die kirchlichen Basisgemeinden ein sehr aktueller Appell an die Diözesen Lateinamerikas. Die Botschaft an den Engel der Gemeinde von Ephesus im zweiten Kapitel der Offenbarung macht gerade heute einen besonderen Sinn: „Du hast ausgeharrt und um meines Namens willen Schweres ertragen und bist nicht müde geworden. Ich werfe dir aber vor, dass du deine erste Liebe verlassen hast“ (Offb 2,3-4). Leider hat in den vergangenen Jahrzehnten die „Pentekostalisierung“ die kirchliche Landschaft in Lateinamerika sehr verändert. Die Priesterausbildung und die Orientierung vieler Bischöfe gehen in diese Richtung. Vor allem der junge Klerus ist anfällig für diesen Trend. Pompöse Zelebrationen mit teuren Paramenten verdrängen die einfachen Feiern der Kirche der Armen. Schade!


Lieber Leonardo,

Ich bin nur ein halbes Jahr jünger als du. Also haben wir die Geschichte unserer Kirche in den vergangenen Jahrzehnten gleichzeitig, jeder auf seine Weise, erlebt. Wir haben uns unendlich gefreut über das im II. Vatikanischen Konzil bewirkte Frühlingserwachen. Wir waren begeistert von den Aufbrüchen in unserer Kirche. Seit einigen Jahrzehnten leiden wir jedoch darunter, dass sich immer wieder Widerstand und Stagnation breitmachen und zum Rückzug geblasen wird, als ob das Konzil ein Desaster in der Kirchengeschichte gewesen wäre. Wir geben nicht auf. Es kann sein, dass wir mit unserer bereits „angehäuften Jugend“ die tatsächliche Applikation des Konzils nicht mehr erleben. Unsere Hoffnung stirbt dennoch nicht, dass die Kirche der Zukunft das wirkliche schon von Johannes XXIII erträumte „Aggiornamento“ bewirkt, die Öffnung unserer Kirche für den Dienst an den Menschen aller Kontinente und Kulturen im Hier und Jetzt ihrer Geschichte.

Gleichzeitig möchte ich dir für deine Bücher und anderen Schriften danken, die mir stets eine Hilfe in meinem pastoralen Einsatz für die Menschen am Xingu und darüber hinaus waren.

Alles Gute und Gottes Segen zu deinem 85. Geburtstag.

Herzlichst,

Erwin Kräutler
Bischof em. vom Xingu

Altamira, 12. Dezember 2023
Fest U. L. Frau von Guadalupe