Mittwoch, 5. Mai 2021

Dom Erwin Kräutler zur aktuellen Lage in Brasilien

 


Interview Dom Erwin Kräutler mit Wolfgang Heindl
Für das Rupertusblatt (Erzdiözese Salzburg)
(Veröffentlichung autorisiert von Dom Erwin Kräutler)

 


Wir bekommen immer wieder sehr dramatische Nachrichten aus Brasilien. Brasilien ist mit über 370.000 Corona Toten nach den USA das Land mit den zweitmeisten Corona Opfern. Wie ist die Situation in Altamira bzw. der Region?

 

Inzwischen gibt es über 410.000 Corona Tote in Brasilien. Die Region Xingu, die Transamazônica und Altamira sind immer noch in der roten Zone. Jeden Tag sterben Leute, die ich gekannt habe. Die Ärzte und das Krankenpersonal tun ihr Möglichstes. Die Spitäler und wenigen Intensivstationen sind voll. Die Situation ist nach wie vor Besorgnis erregend.

 

Wie ist die Situation der indigenen Völker in Amazonien?

 

Die indigenen Völker sind auch nicht vom Virus verschont. Im Gegenteil - es sind mehrere, sogar Kaziken verstorben. Aber es gibt auch noch andere Pandemien: Nicht nur Covid-19, sondern auch die Invasionen von Seiten der Goldschürfer und illegalen Holzfäller, die mit der Regierung Bolsonaro arg zugenommen haben, sind für die Indigenen genauso folgenschwer wie die Corona-Pandemie. Die Regierung schaut mehr oder weniger tatenlos zu. Bolsonaro versprach schon während seines Wahlkampfes, für die Indigenen keinen Quadratmeter Land zu demarkieren. Dazu kommt jetzt, dass viele Abgeordnete und Senatoren im Nationalkongress unter Einfluss von Bolsonaro die Artikel 231 und 232 in der Grundverfassung abändern wollen. Diese Artikel garantieren die angestammten Gebiete der Indigenen Völker. Tür und Tor soll für Großunternehmen, Bergwerksgesellschaften, Goldsucher und Holzfirmen geöffnet werden. Um Gegenreaktionen zu vermeiden schlägt der Finanzminister gleich entsprechende Vorsichtsmaßnamen oder Auflagen vor, die solche Unternehmen zu berücksichtigen hätten, um die Indigenen nicht zu benachteiligen. Aber wer in Brasilien und auf dieser Welt glaubt daran, dass solche Vorschriften tatsächlich eingehalten werden? Die Indigenen Gebiete sind fast alle weit weg von den größeren Städten des Landes. Also ist eine entsprechende Kontrolle praktisch illusorisch. Jede dieser Firmen wird tun und lassen was sie will, ohne für die Missachtung von Auflagen belangt zu werden. Eine Abänderung der Indigenen-Artikel in der Verfassung zugunsten wirtschaftlicher Interessen kommt bereits einem Genozid gleich. Die nur teilweise Aberkennung oder Freigabe des angestammten Landes ist ein Dolchstoß ins Herz dieser Völker, die nur in ihrer Mit-Welt Überlebenschancen haben.   

 

Wie geht es dem Haus für Mutter und Kind? Könnt ihr Schwanger aufnehmen? Wie ist die aktuelle Situation?

 

Wir können während dieser Pandemie nur wenige Frauen aufnehmen und dies selbstverständlich auch nur unter den vorgeschriebenen Schutzmaßnamen wie Maske, Sicherheitsabstand und Hygienevorschriften. Das ist alles nicht zu einfach bei unseren klimatischen Verhältnissen. 

 

Dennoch, wenn Frauen aus dem Hinterland hierherkommen, finden sie keine verschlossenen Türen. Das gilt genauso für das Refúgio, die von uns betreute Unterkunft für Kranke, die aus ländlichen Gebieten zur ambulanten ärztlichen Behandlung nach Altamira kommen und in der Stadt keine Familie haben, die sie aufnehmen und betreuen könnte. Hier erhalten diese Menschen Verpflegung und Hilfeleistungen, wie zum Beispiel die Begleitung zum Arzt und ins Krankenhaus oder die Verabreichung von Medikamenten und Injektionen. Wir nehmen alle Vorsichtsmaßnahmen sehr ernst. Bis jetzt ist nichts passiert, keine schwangere Frau ist erkrankt oder positiv getestet worden.

 

In vielen Ländern hofft man auf das Impfen. Wie ist es in Brasilien? gibt es Bereitschaft zu impfen?

 

Die Bereitschaft, sich impfen zu lassen, ist sehr groß. Leider kursieren aber auch immer wieder Fake News, die die Impfung verteufeln, sodass manche ängstlich werden. Ich habe am vergangenen Samstag, 1. Mai, bereits die zweite Impf-Dosis erhalten und nützte die Gelegenheit, per Video die Leute zu bitten, sich unbedingt impfen zu lassen, um gegen das Virus, das bereits über 400.000 Brasilianerinnen und Brasilianer das Leben kostete, immun zu werden. Es fehlt bisher, Gott sei Dank, am Xingu und in Altamira nicht an Impfstoffen: Coronavac und AstraZeneca. Aber über uns allen schwebt die bange Frage, ob alle, die bis jetzt die erste Impf-Dosis erhalten haben auch wirklich Zugang zur zweiten haben. Das Fernsehen berichtet laufend, dass in verschiedenen Städten immer wieder der Impfstoff fehlt. Wer die zweite Dosis bereits erhalten hat, dankt dem Lieben Gott und dem SUS (Sistema Único de Saúde).

 

Bolsonaro und die Regierung ist in der Corona Frage ja sehr bedenklich unterwegs. Papst Franziskus hat die Bischöfe Brasiliens ja ermutigt positiv auf die Regierung und die Politik des Landes einzuwirken. Die Bischofskonferenz hat auch Kritik geübt. Kommt das bei der Regierung an, merkt man da etwas?

 

Bolsonaro hat seit Beginn der Pandemie bei allen möglichen Gelegenheiten das Virus bagatellisiert und bei Fernsehauftritten Covid 19 als harmlose Grippe heruntergespielt. Ostentativ weigerte er sich, Maske zu tragen und den Sicherheitsabstand einzuhalten. Den Schaden, den er mit seinen Auftritten anrichtete, mussten Tausende mit dem Leben bezahlen. Drei Gesundheitsminister, die die Lage ernst nahmen, und entsprechende Schritte gegen die immer mehr sich ausbreitende Seuche unternehmen wollten, hat er einen nach dem anderen gefeuert und das Ressort schließlich einem General übergeben, der nun schließlich auch wieder ersetzt wurde, weil er ohne jede ärztliche Ausbildung den Anforderungen seines Ministeriums nicht gewachsen war. Bleibt zu hoffen, dass der jetzt schon fünfte Gesundheitsminister seit Amtsantritt Bolsonaros, nun tatsächlich einen anderen Kurs einschlägt. Immerhin hat er bereits versprochen, alles zu tun, damit keine Impfstoffe fehlen und es in den Krankenhäusern keine Engpässe bei Sauerstoffflaschen und anderen zur Heilung der Krankheit notwendigen Arzneimitteln und Apparate gibt.

 

Die Bischofskonferenz und der Bischöfliche Rat für Indigene Völker haben sich immer wieder zu Wort gemeldet und von der Regierung entsprechende politische Maßnahmen gefordert, um das Virus einzudämmen und den Millionen Menschen, die aufgrund der Pandemie arbeitslos geworden sind und sogar Hunger leiden, Hilfe anzubieten. Das ist seitens der Regierung bisher nur in geringen Maß passiert. Tausende Familien sind auf karitative Einrichtungen und Kampagnen angewiesen, die mit Lebensmittelkörben wenigstens das Allernotwendigste fürs Leben bereitstellen. Am meisten leiden die Kinder unter dieser Katastrophe.

 

Bei der online abgehaltenen Generalversammlung der Bischofskonferenz (12. – 16. April 2021) forderten die Bischöfe mehr Kompetenz von Seiten des Staates. Reden und Haltungen die „die Realität der Pandemie leugnen und Gesundheitsmaßnamen ignorieren und den demokratischen Rechtsstaat bedrohen“ seien inakzeptabel. Sie mahnten auch dazu, „auf die Wissenschaft zu hören, die Verwendung von Masken zu fördern, die soziale Distanzierung und die Impfung für alle so schnell wie möglich zu gewährleisten". Die Armen in Brasiliens Bevölkerung bräuchten dringend soziale Hilfe, so ein Aufruf an die Politik (vgl. Newsletter von Vatikan News 17. April 2021).

 

Bolsonaro schert sich allerdings wenig oder überhaupt nicht um das, was die Bischöfe sagen. Er ist von seinem Kurs voll überzeugt und hält seine Politik als die einzig richtige zum Heil Brasiliens. Sein zweiter Name ist „Messias“ und als solcher fühlt und gibt er sich. Wer anderer Meinung ist, wird als Feind Brasiliens und der Regierung als linkslastig und „Kommunist“ eingestuft.

 

Zurzeit läuft im Senat eine parlamentarische Untersuchungskommission, die erforscht, inwieweit Bolsonaro für die Ausbreitung und mangelnde Bekämpfung der Pandemie mitverantwortlich ist.

 

Du hast einmal geschrieben, du erlebst die Coronazeit so als Eremit. Wie geht es dir in diesen Pandemiezeiten? Hat sich das verbessert? Wie schaut dein Alltag aus?

 

Vielleicht war diese meine Aussage, als Eremit zu leben, etwas überzogen, denn ich lebe im Diözesanhaus und bin da nicht vollkommen allein. Mein Nachfolger und drei Patres, die in Altamira ihren Dienst tun, haben hier ihren Wohnsitz. Alle erfüllen wir die Corona-Schutzvorschriften. Dennoch, im Vergleich zu früher, lebe ich nun sehr zurückgezogen. Vermisse unendlich den persönlichen Kontakt mit dem Volk. Jeder Tag gleicht seit mehr als einem Jahr dem anderen. Zelebriere täglich mit drei Schwestern, im kleinsten Kreis. Der Sonntagsgottesdienst wird via Facebook übertragen und die Anzahl der virtuellen Teilnehmer ist beachtlich. Ich habe viel Zeit für Gebet und Meditation. Bete jeden Tag mindestens dreimal den Rosenkranz. Meditiere die Geheimisse unseres Glaubens und denke nach, wie wir die Amazonien-Synode und Beschlüsse der Bischofskonferenz in konkretes Handeln mit und unter unserem Volk umsetzen können. Als Vorsitzender der REPAM-Brasil (Panamazonisches Kirchliches Netzwerk in Brasilien) nehme ich an vielen Online-Sitzungen teil und bin auch immer wieder zu Live-Sendungen via Internet eingeladen.

 

Im Papstschreiben ”Querida Amazonia”, als Folge der Amazonien-Synode, hat Franziskus ja nicht alle Anregungen aufgegriffen z.b. die Weihe verheirateter Männer oder das Diakonat der Frau. Wie wird dieses nachsynodale Schreiben in den Diözesen Amazoniens aufgenommen, wie wird es umgesetzt?

 

Die Themen Diakonat der Frau und verheiratete Priester sind absolut nicht vom Tisch gefegt, weil sie Papst Franziskus nicht im Nachsynodalen Schreiben „Querida Amazônia“ aufgegriffen hat. Gleich zu Beginn seines Schreibens stellt Franziskus fest: „Ich werde hier nicht alle Fragen entfalten, die im Schlussdokument ausführlich dargelegt wurden. Ich habe auch nicht vor, es hiermit zu ersetzen oder zu wiederholen“ (n. 2). Er verweist also auf unser Schlussdokument, in dem diese Themen sehr wohl behandelt werden. Und weiter schreibt Papst Franziskus: „Zugleich möchte ich das Schlussdokument offiziell vorstellen. Es bietet uns die Folgerungen der Synode, an der viele Menschen mitgearbeitet haben, die die Problematik Amazoniens besser kennen als ich und die Römische Kurie, da sie dort leben, mit ihm leiden und es leidenschaftlich lieben“ (n. 3).

Im Schlussdokument ist das Thema Diakonat der Frau präsent. Eine von Papst Franziskus eingesetzte Kommission über das Diakonat der Frau in der Urkirche kam zu einem „einseitigen“ Ergebnis. So wünscht die Synode, dass wir „unsere eigenen Erfahrungen und Reflexionen mit der Kommission austauschen“  (n. 103). Ich bin fest überzeugt, dass der Ausgangspunkt einer jeden Diskussion nicht nur die Gepflogenheit der Urkirche sein kann, sondern die Berücksichtigung der Ansprüche unserer Zeit sein muss. Der Presbyter der Urkirche und ersten Jahrhunderte entspricht auch nicht unbedingt dem Presbyter, wie ihn das II. Vatikanische Konzil versteht. Das „Aggiornamento“ vom Hl. Papst Johannes XXIII verlangt bis heute neue Wege und den Mut für neue Dienstämter in unserer Kirche. Das Motu Proprio „Spiritus Domini“ vom 10. Januar 2021 hat die bisher nur Männern (Can. 230Viri laici) vorbehaltenen Dienstämter nun auch für Frauen geöffnet. Das war ein ausdrücklicher Wunsch der Synode, obwohl in Amazonien Frauen längst diese Dienste und noch andere mehr ausüben. Das Schlussdokument bittet den Papst, das Motu Proprio „Ministeria quaedam“ von Papst Paul VI zu überprüfen und die Dienstämter des Lektorats und Akolythats auch Frauen zugänglich zu machen. Wörtlich heißt es in der Folge: „Im neuen Kontext von Evangelisierung und Pastoral in Amazonien werden die meisten katholischen Gemeinden von Frauen geleitet“ (n. 102). Wenn Frauen in Amazonien genau die Dienste leisten, die woanders ein Diakon ausübt, wenn Frauen die Tauferlaubnis vom Bischof erhalten, Wortgottesdienste halten und das Wort Gottes verkünden, Religionsunterricht geben und ganz besonders den Armen und Benachteiligten zur Seite stehen, warum erhalten sie dafür nicht die Diakonatsweihe? Nur weil sie Frauen sind?

Weil wir die „Problematik Amazoniens besser kennen“ (QA, 3) wissen wir auch um die eucharistische Notlage in tausenden Gemeinden dieser Region: „Die Gemeinde hat ein Recht auf die Eucharistiefeier. (…) Deshalb schreien lebendige Gemeinden geradezu nach der Feier der Eucharistie. Sie ist zweifellos das Ziel (Höhepunkt und Vollendung) der Gemeinschaft“ heißt es im Schlussdokument (n. 110). Und weiter: „Manchmal vergehen nicht nur Monate, sondern sogar Jahre, bevor ein Priester wieder in die Gemeinde kommt, um Eucharistie zu feiern, das Sakrament der Versöhnung oder die Krankensalbung zu spenden“ (n.111).

Die Synode erwägt absolut nicht die Abschaffung des Zölibats, sondern schlägt, ganz im Hinblick auf die eucharistielosen Gemeinden Amazoniens, die Öffnung des Weihepriestertums auch für Verheiratete vor.

Ich bin überzeugt, dass es für die meisten Bischöfe Amazoniens eine Überraschung oder sogar eine Enttäuschung war, im Apostolischen Schreiben „Querida Amazônia“ kein Wort zum Frauendiakonat und zur Öffnung des Weihepriestertums für Verheiratete zu finden. Viele suchten und suchen immer noch nach einer einleuchtenden Erklärung dafür. Manche meinen, der Papst wollte einer „Spaltung“ in der Kirche aus dem Weg gehen und stand wohl auch sehr unter dem Druck der Kurie. Das spürten wir schon glasklar bei den Wortmeldungen während der Synodensessionen und auch bei persönlichen Gesprächen mit Vertretern der Kurie. Da erfuhren wir sehr wenig Verständnis für die von uns Tag für Tag „erlebte Problematik“ (QA, 3).

Mir persönlich fällt einfach auf, dass es im Kapitel „Eine kirchliche Vision“ des Apostolischen Schreibens einen eklatanten Bruch nach der n. 89 gibt. Papst Franziskus beginnt mit der Feststellung: „Unter den besonderen Umständen Amazoniens, vor allem im tropischen Regenwald und in abgelegeneren Gebieten, muss ein Weg gefunden werden, um diesen priesterlichen Dienst zu gewährleisten. (…) Die Gemeinschaften brauchen die Feier der Eucharistie, denn sie „baut die Kirche“ auf und daraus folgt, dass die christliche Gemeinde „aber nur auferbaut [wird], wenn sie Wurzel und Angelpunkt in der Feier der Eucharistie hat“. Wenn wir wirklich glauben, dass dies so ist, ist es dringend notwendig zu verhindern, dass den Amazonasvölkern diese Nahrung des neuen Lebens und des Sakraments der Versöhnung vorenthalten wird“ (QA, 89).

Im folgenden Absatz legt der Papst den Bischöfen aber dann lediglich das Gebet um Priesterberufe und die Förderung missionarischer Berufe in anderen Gegenden ans Herz (QA, 90) und wünscht eine „stabile Präsenz reifer und mit entsprechenden Vollmachten ausgestatteter Laien-Gemeindeleiter“ (QA, 94). Diese Laien-Gemeindeleiter/innen sind es ja gerade, die seit vielen Jahrzehnten in den entlegenen Gebieten Amazoniens überhaupt noch garantieren, dass die Kirche präsent ist. Aber – sie sind eben nicht befähigt, mit ihrem Volk Eucharistie zu feiern. Und darum geht es ja hier.

 

Altamira, 5. Mai 2021

Dom Erwin Kräutler



Rupertusblatt, 5. Mai 2021

Indigene kämpfen um ihr Überleben
Bischof Erwin Kräutler erlebt in Altamira die Coronakatastrophe hautnah mit. Das Virus wütet nicht nur in den Städten, sondern auch in den Dörfern Amazoniens.
Er spricht auch von Projekten, die von "Sei So Frei", der entwicklungspolitischen Organisation der Katholischen Männerbewegung, unterstützt werden.
Gerne können Sie Bischof Kräutler und Amazonien online unterstützen, wenn Sei die Verwendung Ihrer Spende im vorgesehenen Feld entsprechend auswählen.


Domradio.de, 08.05.2021
Brasilien-Experte Kräutler kritisiert fehlende Dialog-Bereitschaft Bolsonaros
Situation in Amazonien dramatisch
Der Brasilien-Experte und emeritierte Bischof Erwin Kräutler hat Präsident Jair Messias Bolsonaro für seine Corona-Politik scharf kritisiert. Brasilien verzeichne mit rund 400.000 Corona-Toten die weltweit zweithöchste Zahl an Pandemie-Opfern nach den USA.


Kathpress, 8.5.2021
Amazonien-Bischof Kräutler:
Mit Bolsonaro kein Dialog möglich
Scharfe Kritik an der brasilianischen Staatsführung unter Präsident Jair Bolsonaro hat der austro-brasilianische Bischof Erwin Kräutler vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie geübt. Brasilien verzeichnet mit laut Kräutler 400.000 Coronatoten die weltweit zweithöchste Zahl an Pandemieopfern nach den USA. Das von Bolsonaro lange Zeit herabgespielte Virus wütet nicht nur in den Städten, sondern auch in den Dörfern Amazoniens. Mehrere Kaziken (Anm.: indigene Anführer) seien verstorben. Brasiliens Bischofskonferenz habe in einem "Brief an das Volk Gottes" auf die Verantwortung der Politik hingewiesen, sagte Kräutler im Interview des Salzburger "Rupertusblattes" (aktuelle Ausgabe). "Aber Bolsonaro und sein Kabinett scheren sich ziemlich wenig um das, was die Bischöfe hier ansprechen."
Neben Corona gibt es nach den Worten des emeritierten Bischofs von Xingu/Altamira auch andere "Pandemien", die für die Indigenen lebensbedrohlich seien: Deren Lebensraum werde durch die Invasionen der Goldschürfer und illegalen Holzfäller in Amazonien zerstört. "Wir haben mehrere Völker, bei denen die Lage mittlerweile sehr kritisch ist, weil die Politik nichts oder fast gar nichts unternimmt, um sie zu schützen", beklagte Kräutler. Diese Entwicklung sei "tragisch und kommt doch nicht zufällig". Die Regierung sei den Indigenen gegenüber "absolut feindlich eingestellt". Präsident Bolsonaro wolle von ihnen am liebsten überhaupt nichts wissen, so Kräutler. 

Der Bischof zeichnete ein düsteres Bild von der Persönlichkeit des Rechtspopulisten: "Mit ihm kann es eigentlich kein wirkliches Gespräch geben." Bolsonaro akzeptiere keine Widerrede und sei vollkommen überzeugt, dass nur sein Weg der richtige ist. "Da können Bischöfe kommen oder andere Vertreter des Volkes, das ist ihm egal. Er weiß alles und lässt keine andere Meinung gelten."

Indigenes Land ist bedroht

Der in Vorarlberg geborene Amazonas-Bischof fürchtet um das bisher durch die Verfassung abgesicherten demarkieren Gebiete der Indigenen - also jenes Land, das ihnen zu ihrer exklusiven Nutzung übergeben wurde. Daran werde nun "massiv gerüttelt", die Regierung wolle die entsprechenden Bestimmungen ändern und Unternehmen das Recht einräumen, unter Auflagen in den indigenen Gebieten arbeiten zu können. Wenn etwa Bergwerksgesellschaften oder Holzfirmen tatsächlich in die indigene Lebenswelt vordringen dürften, "dann halten sie die Beschränkungen hundertprozentig nicht ein", gab sich Kräutler illusionslos. "Daran gibt es absolut keinen Zweifel."

Über die Corona-Situation in Xingu und Altamira teilte der Bischof nach dem bisher in Brasilien tödlichsten Monat April mit, die Region sei immer noch in der roten Zone. "Jeden Tag sterben Menschen, die wir kennen." Die Impfbereitschaft der sei gegeben. "Die Menschen warten teilweise sehnsüchtig darauf, dass sie an die Reihe kommen." Er selbst habe seine erste Dosis schon bekommen und warte jetzt auf die nächste, berichtete der 81-Jährige.

Im "Haus für Mutter und Kind" in Altamira, das mithilfe der Spendenaktion "Sei so frei" der Katholischen Männerbewegung errichtet wurde, könnten derzeit wegen Corona nur wenige Frauen aufgenommen werden. Die Schutzbestimmungen würden sehr genau genommen, es sei eine Herausforderung, den Betrieb am Laufen zu halten. "Bis jetzt ist nichts passiert, wir hatten keinen positiven Test und keine Frau ist erkrankt", berichtete Kräutler.

Eucharistie weiterhin oft unmöglich

Befragt nach den Auswirkungen der Amazoniensynode und des nachsynodalen Papstschreibens "Querida Amazonia", mit dem Franziskus Anregungen wie die Weihe verheirateter Männer oder das Diakonat der Frau aufgriff, sprach Kräutler von einem "Bruch". Es werde wieder von Priesterseminaren gesprochen "und mit keinem Wort die Möglichkeit des Frauendiakonats oder der verheirateten Priester ins Auge gefasst". Aber die meisten Bischöfe würden denken: "Das ist nicht das letzte Wort. Man kann das Gespräch und den Dialog über diese Themen, über diese Zukunft nicht mehr stoppen."

Der Priestermangel in Amazonien, der Kräutler zur Forderung nach einer Ausweitung des Zugangs zu priesterlichen Aufgaben veranlasste, sei unverändert: "Die Menschen sind von der Eucharistie ausgeschlossen ... Unsere Leute haben keinen Zugang zum Kern unseres Glaubens." Hinderlich seien kirchliche Vorschriften, "die aber geändert werden könnten", wie der Bischof hinwies.