NZZ, 31.7.22012
Wachstum auf dem Rücken der Indigenen
In Brasilien sind viele indigene Völker Opfer eines gewaltsamen Landkonfliktes. Im Namen des nationalen Interesses will die Regierung nun auch noch ihre Rechte kappen.
Vergangene Woche haben Stammesführer der Juruna und Arara drei Ingenieure des Konsortiums Norte Energia gefangen genommen. Norte Energia ist für den Bau des Staudamms von Belo Monte am Amazonaszufluss Xingu verantwortlich. Mit der Aktion protestieren die Indianer gegen das Vorgehen des Konsortiums, das mit dem Bau begonnen hat, obwohl noch Einsprachen gegen das Projekt hängig und noch nicht alle Vorbedingungen erfüllt sind. Bereits im Juni kam es zu Protesten von Gegnern des Staudamms. Rund 200 Indigene und Aktivisten besetzten tagelang die Baustelle und gruben eine Furche in einen Erdwall, um symbolisch den Flusslauf wiederherzustellen.
Gewaltsamer Konflikt
Der Protest der Indianer vom Xingu ist einer der zahlreichen verzweifelten Hilferufe indigener Völker in Brasilien, die sich durch das rasante Wachstum des Landes und den Vormarsch der Wirtschaft zusehends in die Enge getrieben sehen. Die Konflikte um Land und Ressourcen nehmen zu. 2011 wurden in Brasilien über tausend Landkonflikte gezählt, 20 Prozent mehr als im Vorjahr. Oft sind Indianerstämme in die Konflikte verwickelt. Und oft werden die Indigenen dabei Opfer von Gewalt. In seinem kürzlich veröffentlichten Jahresbericht über die Gewalt gegen die indigenen Völker Brasiliens kommt der Indigenen-Missionsrat der katholischen Kirche (Cimi) zu einer ernüchternden Bilanz: 2011 wurden in Brasilien 51 Indianer ermordet. Im gleichen Zeitraum wurden 12 Fälle von Totschlag und 19 von vorsätzlicher Körperverletzung registriert. Daneben kommt es zu Mordversuchen, Drohungen und Vergewaltigungen.
Eine dramatische Situation herrscht im Gliedstaat Mato Grosso do Sul, wo sich das Stammesgebiet der Guaraní-Kaiowá befindet. Farmer haben die Region vor einigen Jahrzehnten besiedelt. Seither leben die Indianer zusammengepfercht in wenigen kleinen Reservaten oder in erbärmlichen Camps am Strassenrand. Heute kämpfen sie für die rechtliche Anerkennung ihrer einstigen Stammesgebiete. Die Demarkierung kommt aber nur schleppend voran und stösst auf den Widerstand der Farmer, Viehzüchter und der lokalen Machtelite. Immer wieder kommt es zu gewaltsamen Übergriffen gegen die Guaraní-Kaiowá. Mehr als die Hälfte der 51 gezählten Mordfälle betrafen den Stamm. Die Mordrate ist mit 100 Fällen auf 100 000 Personen viermal so hoch wie der Durchschnitt Brasiliens.
Lange Zeit blieben die Gewaltakte ungesühnt. Inzwischen greifen die Behörden härter durch. Erst vor kurzem wurden in Mato Grosso do Sul 18 Personen verhaftet, die für das Verschwinden eines Guaraní-Führers verantwortlich sein sollen. 2011 wurden in einem historischen Prozess zum erstem Mal zwei Männer zu hohen Haftstrafen verurteilt, die einen Indianer zu Tode gefoltert hatten.
Bedrohung durch Übergriffe
Die Morde sind der Gipfel einer ganzen Palette von Gewaltformen, denen die indigenen Völker ausgesetzt sind. Sie reichen von fehlender medizinischer Betreuung bis hin zu Rassismus. Die Liste der gemeldeten Fälle ist lang und dürfte nur einen Teil der Realität abbilden. Gewalt richtet sich auch gegen das Eigentum der Urvölker. So wurden im vergangenen Jahr 42 Fälle gemeldet, in denen es zu Invasionen in geschützte Indianerreservate und illegalem Abbau von natürlichen Ressourcen kam. 2010 waren es noch 33 Fälle.
Besonders prekär in dieser Beziehung ist die Situation der Awá-Guajá im Gliedstaat Maranhão. Die Bedrohung des Stammes begann in den achtziger Jahren mit dem Bau einer von der Weltbank und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft finanzierten Bahnstrecke von der Küste nach Carajás, wo sich die grösste Eisenerzmine der Welt befindet. Das Projekt zog Siedler in die Region, Strassen entstanden, und der Wald begann zu schrumpfen. Was mit dem Reservat der Awá geschah, zeigen Satellitenbilder: Innert weniger Jahre haben Holzfäller und Viehzüchter tiefe Narben im Gebiet der Indianer verursacht. Mehr als 30 Prozent des Reservats sind inzwischen abgeholzt – mit drastischen Folgen für die Awá, die reine Jäger und Sammler sind. Heute zählt der Stamm noch rund 350 Indianer, von denen etwa 100 noch keinen Kontakt zur Aussenwelt hatten. Gleichzeitig sollen sich laut Angaben der Regierung rund 4500 Siedler illegal im Gebiet aufhalten. Nicht zu Unrecht spricht die Organisation Survival International, die sich weltweit für den Schutz der Urvölker einsetzt, vom «meistbedrohten Volk der Welt».
Mit einer Kampagne macht Survival International seit einigen Monaten auf das Schicksal der Awá aufmerksam. Trotz Versprechen der brasilianischen Regierung habe sich an der Situation wenig verbessert, sagt Kampagnen-Koordinatorin Sarah Shenker. Brasilien habe sehr gute Gesetze. Es fehle aber an Leuten, um die Reservate effektiv zu schützen. Zudem seien die Strafen zu mild. «Nach den Kontrollen kommen die Holzfäller wieder zurück. Die Bussen gehören zum Geschäftsrisiko», sagt Shenker. Bildung und medizinische Versorgung nützten nichts, wenn das Land der Indianer nicht geschützt werde, denn das sei ihre Lebensgrundlage.
Prioritäten der Regierung
In Brasilien existieren 227 indigene Gruppen mit insgesamt rund 480 000 Angehörigen. Ihre Landrechte sind seit einiger Zeit gesetzlich festgehalten. Von den über 1000 registrierten Stammesgebieten sind heute allerdings lediglich 363 vollständig anerkannt. 270 befinden sich in der Bewilligungsphase. Die restlichen warten auf den Beginn des Regulierungsprozesses. Die vorgeschriebenen Fristen wurden bisher in keinem Fall eingehalten. Besonders schwer tut sich die Regierung von Präsidentin Dilma Rousseff. In ihrem ersten Amtsjahr wurden lediglich drei Gebiete anerkannt, so wenige wie noch nie seit der Redemokratisierung Brasiliens.
Wo die Prioritäten Brasilias liegen, zeigt auch ein kürzlich veröffentlichter Erlass der Generalbundesanwaltschaft, der die Normen für die Demarkierung von Indianerterritorien neu regelt. Demnach sollen bereits regulierte Territorien zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr angepasst werden können. Zudem ist festgehalten, dass die Projekte von nationaler Bedeutung – zum Beispiel Militärbasen, Verkehrswege oder Kraftwerke – künftig in und um Indianerterritorien errichtet werden dürfen, ohne zuvor die betroffenen Gemeinden zu konsultieren. Dies verstösst gegen die brasilianische Verfassung und gegen internationales Recht.
Die neue Regelung wird von verschiedensten Organisationen scharf kritisiert. Mit der Indianerbehörde Funai hat sich auch ein Regierungsorgan der Kritik angeschlossen. Der Erlass habe keinen juristischen Wert, sagt der Exekutivsekretär des Cimi, Saulo Feitosa, sondern schaffe nur Rechtsunsicherheit und gefährde den Regulierungsprozess. Cimi und andere Organisationen verlangen den Rückzug des Erlasses, der laut Feitosa einzig dazu dient, dem Grosskapital und der Agrarindustrie den Weg zu ebnen. Das entspreche der Logik der amtierenden Regierung, die alles dem Wachstum unterwerfe.