Montag, 2. Juni 2014
Bischof Kräutler: Nach dem WM-Jubel erwartet Brasilien Katerstimmung
Kathpress, 02.06.2014
Kräutler: Nach dem WM-Jubel erwartet Brasilien Katerstimmung
Amazonas-Bischof in "Kleiner Zeitung": Ausgaben für die Stadien fehlen im Sozial-, Gesundheits- und Bildungsbereich - Belo-Monte-Staudamm von Regierung und Unternehmen trotz Gesetzwidrigkeit durchgepeitscht
Klagenfurt, 02.06.2014 (KAP) Brasilien steht in den Augen von Bischof Erwin Kräutler ein böses Erwachen nach der WM bevor: Im Gegenzug für die WM-Ausgaben würden bald "Milliarden" im Sozial-, Gesundheits- und Bildungsbereich fehlen - "und nach dem Jubel eines möglichen neuerlichen Weltmeisterschaftstitels kommt dann die Katerstimmung. Die grausame und ungerechte Realität umfängt uns wieder", so der aus Vorarlberg stammende Bischof der Amazonas-Diözese Xingu, der sich derzeit in Österreich aufhält, im Interview mit der "Kleinen Zeitung" (Sonntag).
Im Blick auf die meist friedlichen Demonstrationen rund um die Fußball-WM begrüße er es, "wenn junge Leute auf die Straße gehen, um das wahre Antlitz Brasiliens bloßzulegen", so der 2010 mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnete Bischof. Millionen Brasilianer würden die Geschehnisse im Vorfeld der WM als "katastrophalen Unfug" bezeichnen, denn "Milliarden wurden und werden in den Bau von Stadien und Infrastruktur hineingebuttert, um den FIFA-Anforderungen gerecht zu werden". Absehbar sei, dass viele der Stadien später bloß "weiße Elefanten" seien, da es außerhalb der WM in der Mehrzahl der neuen Spielstätten nicht genügend Besucher gebe.
Unterstützung signalisierte der Bischof für die Forderungen vieler Brasilianer nach "FIFA-Standards" für Spitäler, Gesundheitsposten, Schulen, Universitäten, Transport und öffentliche Sicherheit. Kräutler wörtlich: "Solange es für Kinder nicht einmal anständige Schulbänke gibt, Kranke in Spitalsgängen auf dem Boden liegen oder in langen Warteschlangen vor einem Gesundheitsamt tot umfallen, Arbeiter und Angestellte tagtäglich stundenlang in Bussen wie in Sardinendosen eingepfercht zum Arbeitsplatz fahren müssen, ist es ein Skandal, Milliarden für Fußballstadien hinauszuschmeißen."
Seine Kritik wiederholte der Bischof auch am Kraftwerksbau Belo Monte: Vergangenen Sonntag seien Indio-Vertreter mit "Tränengas und Gummigeschoßen" empfangen und teils verletzt worden, als sie gegenüber Vertretern der Baufirma Norte Energia S.A. die von den Regierungsbehörden vor Baubeginn geforderten Bedingungen einmahnen wollten. "Braucht es noch mehr, um aufzuzeigen, wie die Bauherren mit den Indios umgehen?", so der Amazonas-Bischof. Keine der 63 Bedingungen, die die Indios und die Umweltbehörde vor Baubeginn gefordert hatten, sei bis dato erfüllt worden.
Erst Kraftwerk bauen, dann Einwände hören
Kräutler nannte die Vorgehensweise der Regierung und der beteiligten Unternehmen - darunter die österreichische Andritz AG - eine rücksichtslose "Strategie der vollendeten Tatsachen": Keinen der Akteure würde es kümmern, dass der weiter fortschreitende Kraftwerksbau "gesetzeswidrig" sei, worauf auch die mehr als ein Dutzend von der Staatsanwalt angestrengten Prozesse deuteten: Alle seien in Schubladen verschwunden "und werden wahrscheinlich erst behandelt, wenn die Turbinen laufen". Vielleicht würde dann der Richter feststellen, "dass Belo Monte eigentlich gar nicht hätte gebaut werden dürfen", so der Bischof sarkastisch.
Bei den Indios, für deren Rechte sich Kräutler seit Jahrzehnten einsetzt, gehe es derzeit "um das physische und kulturelle Überleben": Die "63 Quadratmeter großen Serienbetonhäuser aus Fertigteilen", in die 40.000 Menschen zwangsumgesiedelt werden, seien für die Betroffenen wie "Käfige" und eine massive Gefahr für die familiären Beziehungen.
Ganz allgemein nehme bei den meisten Parlamentariern eine "anti-indigene Einstellung" zu, viele Indios würden weiterhin von Großgrundbesitzern aus ihren Gebieten vertrieben oder müssten in menschenunwürdigen Behausungen an den Straßen vegetieren, zudem seien jährlich Dutzende Indios Opfer von Mordanschlägen. "Jugendliche wählen den Freitod, um der Qual zu entkommen", so der Bischof.
Kurier, 29.05.2014
Bischof Kräutler: "Wer steigt da nicht auf die Barrikaden"
Der in Brasilien tätige Geistliche übt massive Kritik an den Umständen der Fußball-WM.
Das Eröffnungsspiel zur Fußball-Weltmeisterschaft (Brasilien gegen Kroatien) in São Paulo wird er am 12. Juni noch in seiner alten Heimat Österreich verfolgen, wo er derzeit zu Besuch ist. Doch schon beim zweiten Antreten der Seleção (gegen Mexiko am 17. Juni) wird Bischof Erwin Kräutler wieder in seiner Diözese im Amazonasgebiet sein. Im KURIER-Interview lässt der gebürtige Vorarlberger kein gutes Haar an den Umständen des sportlichen Großereignisses.
KURIER:Die WM beginnt in wenigen Tagen. Wie ist die Stimmung in Brasilien?Bischof Erwin Kräutler:Es gibt natürlich einen ungeheuren Fußball-Enthusiasmus im Land, zugleich aber auch viele Missstände. Und weil die ganze Welt nach Brasilien blickt, werden die Menschen das nützen, um darauf hinzuweisen. Ich glaube, wir können uns noch gar nicht vorstellen, was da auf uns zukommt.
Konkret: Was liegt im Argen?
Im Gesundheits-, im Bildungs- und im Transportbereich sind wir weit weg von den Standards, die uns die FIFA (Weltfußballverband) für die Stadien etwa vorschreibt. In den Städten beispielsweise müssen sich die Menschen nach einem harten Arbeitstag in völlig überfüllte Busse zwängen, wie die Sardinen, und brauchen dann wegen des Verkehrschaos oft zwei Stunden nach Hause. Oder: Selbst in Rio liegen die Patienten in den Spitälern auf dem Boden. Das ist menschenunwürdig. Wer steigt da nicht auf die Barrikaden?!
Das heißt, Sie halten die zu erwartenden Proteste für berechtigt?
Ja, aber verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin nicht gegen Fußball, nur die Proportionen stimmen nicht. Denn während es in den genannten Sektoren an allen Ecken mangelt, wurden Milliarden für Stadien-Bauten ausgegeben. Nehmen Sie das Beispiel Brasilia. Hier gibt es überhaupt keine Fußball-Tradition wie in Rio oder São Paulo. Die Mannschaft dort spielt in einer Liga, die in Österreich der Landesliga entspricht. Die Arena wird nach der WM ein "weißer Elefant" sein – ebenso die in Manaus. Die Regierung will uns mit "Brot und Spielen" abspeisen, aber das lassen sich immer mehr Brasilianer nicht gefallen.
Wer trägt den Protest?
Federführend sind junge Leute von den Unis und höheren Schulen, die etwa über Facebook gut vernetzt sind, aber auch Arbeiter gehören dazu. Die oberen Zehntausend sicher nicht, die sitzen dann in den Stadien.
Vielfach arten die Demonstrationen allerdings in Gewalt aus...
... ja, das vermittelt kein gutes Bild. Im Prinzip aber will die Jugend friedlich ihren Forderungen Nachdruck verleihen. Doch bei 500.000 Demonstranten mischen sich halt leider auch einige Chaoten unter die Menge, die dann das mediale Interesse auf sich ziehen.
In Brasilien ist für viele die FIFA ein richtiges Feindbild. Warum ist das so?
Weil sie autoritär und präpotent auftritt, und die Regierung ist ihr hörig. Aber wir brauchen keine Regierung über der Regierung. Der frühere Präsident Lula hat die WM und auch Olympia (2016) ins Land geholt, und seither sind die Verantwortlichen nur noch unterwürfig. So akzeptiert die FIFA keine Standeln von Einheimischen in einem bestimmten Umkreis der Stadien. Für die Bevölkerung ist das Wahnsinn, die gehören zu unserer Kultur.
Wird die WM Auswirkungen auf die Präsidentschaftswahlen im Herbst haben?
Wenn Brasilien Weltmeister wird, wird der Jubel quer durch das Land alles andere zunächst zudecken. Aber die Euphorie wird vergehen, denn die Probleme sind deswegen ja nicht verschwunden. Und wenn Brasilien nicht Weltmeister wird, wird das sehr wohl Folgen für die Politik haben.
Welche?
Der nationale Frust wird dann so groß sein, dass Präsidentin Dilma (Rousseff) bei der angepeilten Wiederwahl sicher Stimmen verlieren wird. Der Frust wird auch die Proteste noch mehr anheizen. Und die Milliarden, die die Regierung für den Bau der FIFA-Stadien hinausgeschmissen hat, werden noch intensiver eingeklagt werden.
Werden Sie sich die WM-Partien im Fernsehen anschauen?
Natürlich! Gerade wenn Brasilien spielt, kann man ohnehin nichts anderes machen, da steht das ganze Land still. Es hätte gar keinen Sinn, da einen Gottesdienst oder eine Versammlung anzusetzen.
Zu wem halten Sie?
Die Frage ist überflüssig (Brasilien).
Noch eine persönliche Frage: Sie werden heuer 75 Jahre alt. Laut Kirchenrecht müssen sie zu diesem Zeitpunkt dem Papst ihren Rücktritt anbieten, der ihn annehmen kann oder auch nicht. Haben Sie schon Hinweise, was passieren wird?
Ich überlasse diese Entscheidung ganz dem Papst. Aber ich glaube, dass das nicht von einem Tag auf den anderen erledigt sein wird. Denn meine Diözese (Xingu), die so groß wie Deutschland ist, wird dreigeteilt. Das ist wichtig, weil die Distanzen enorm sind. Ich denke, dass ich dieses Projekt noch abwickeln soll.
Das heißt: Sie bleiben noch eine Zeit lang Bischof?
Kann gut sein.