miteinander 9/2014
"Wir müssen politischer werden"
Der austro-brasilianische Bischof Erwin Kräutler im miteinander-Interview.
Herr Bischof, Sie wurden vor wenigen Wochen 75 Jahre alt. Zeit, um an Ruhestand zu denken?
Ich werde dem Papst meinen Rücktritt anbieten, wie es das Kirchenrecht empfiehlt. Die Entscheidung liegt aber bei ihm. Im Kirchenrecht heißt es, dass der Papst „nach Abwägung aller Umstände entscheiden wird“. Aber Ruhestand, nein, dieses Wort kommt in meinem Wortschatz nicht vor. Ich werde vielleicht etwas häufiger in Österreich sein, dort auch vermehrt seelsorgliche Termine wahrnehmen, aber in Amazonien und Brasilien gibt es für mich weiterhin viel zu tun. Ich bin sehr oft eingeladen, Exerzitien für Priester, Ordensleute und in der Pastoral engagierte Frauen und Männer zu geben.
Sie werden also auch weiterhin Ihre Stimme erheben?
Natürlich. Ich werde wohl auch am Xingu weiter tätig sein. Ich erhielt den Auftrag, einen Plan zur Dreiteilung dieser großen Diözese – sie ist viereinhalb Mal so groß wie Österreich – zu erarbeiten. Da stecke ich mittendrin. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man mich davon einfach abziehen wird. Und darüber hinaus bin ich ja auch weiterhin Vorsitzender des Rates für indigene Völker der brasilianischen Bischofskonferenz und Sekretär der bischöflichen Kommission für Amazonien.
Was kann – vor dem Hintergrund Ihrer fast 50 Jahre in Lateinamerika – die Kirche in Österreich von der Kirche in Lateinamerika lernen?
Zunächst möchte ich festhalten, dass ich nicht mit der Intention nach Brasilien gegangen bin, die Brücken nach Österreich abzubrechen. Ich fühle mich nach wie vor von meiner Heimatkirche getragen. Aber in der Tat glaube ich, dass viele Dinge, die ich in Brasilien erlebe, auch für die Kirchen in Europa wichtig sein könnten.
Welche Erfahrungen meinen Sie konkret?
Ich meine vor allem die Frage nach der Mit-Verantwortung der Laien für ihre Kirche, die in Lateinamerika stark ausgeprägt ist. In Europa spürt man, dass viele Laien immer noch in einer Art Konsumentenhaltung verharren. In unseren Basisgemeinden hingegen erleben wir, wie positiv die Arbeit der Laien auch in Fragen der Gemeindeleitung sein kann. Das wird man in Europa wohl erst zu schätzen lernen, wenn der Priestermangel noch schmerzhafter wird, als er es schon jetzt ist …
Welchen Lösungsvorschlag hätten Sie denn für dieses Problem des akuten Priestermangels?
Ich unterstütze den Vorschlag des aus Deutschland stammenden bereits emeritierten südafrikanischen Bischofs Fritz Lobinger. Dieser verteidigt die These, dass eine priesterlose Gemeinde aus ihren Reihen Älteste wählen sollte, die dann – als für diese jeweilige Gemeinde Ordinierte – den Eucharistiefeiern vorstehen. Wohlgemerkt, Lobinger meint keine Art Selbstbeauftragung, sondern eine sakramentale Weihe für die jeweilige Gemeinde, wobei die Geweihten in ihren zivilen Berufen und Familien bleiben würden. Wir dürfen den Menschen die Eucharistie nicht vorenthalten. Diesen Vorschlag hat übrigens auch der Wiener Weihbischof Helmut Krätzl in seinem neuen, sehr beachtenswerten Buch Brot des Lebens. Mein Weg mit der Eucharistie erörtert.
Gab es in Ihrem priesterlichen Leben auch Erfahrungen, die Sie an die Grenzen Ihres Glaubens geführt haben?
Nein, ich fühle mich von Leiderfahrungen oder Ähnlichem nicht im Mark des Glaubens erschüttert. Ich lebe ganz aus der Heiligen Schrift – das heißt aus der Überzeugung des „Gott mit uns“: Gott sieht, hört, kennt mich, er steigt herab und befreit. Der Glaube zwingt in unbedingte Solidarität mit den Armen, den Leidenden, nur dort kommt er ganz zu sich. Das ist meine feste Überzeugung.
Diesen positiven Zugang können Sie sich auch angesichts Ihres großen Kampfes gegen das Staudammprojekt Belo Monte noch bewahren?
Ja, natürlich ist die gegenwärtige Situation nicht erfreulich: 40.000 Menschen stehen vor der Zwangsumsiedlung. Wir müssen eingestehen, dass unser Plan A – die Verhinderung des Dammbaus – gescheitert ist. Dreißig Jahre haben wir gegen dieses Mammutprojekt gekämpft. Ein Ausstieg aus dem Projekt ist nun nicht mehr realistisch. Für uns geht es jetzt um Schadensbegrenzung, das heißt, wir drängen darauf, dass die von Umsiedlung betroffenen Menschen anständig untergebracht und nicht abgespeist werden.
Aus europäischer Sicht hat man manchmal den Eindruck, Sie sind die zentrale Galionsfigur im Kampf gegen Belo Monte…
Kräutler (lacht) Tatsächlich ist die Kirche eine wichtige Triebfeder des Protestes und Widerstandes, aber natürlich gibt es auch viele weitere Partnerorganisationen der Zivilgesellschaft. Es geht ja schließlich nicht um eine nur kirchliche Sache, sondern um Menschen! Wenn ich Kirche sage, meine ich im Übrigen tatsächlich die katholische Kirche, denn gerade die starken evangelikalen Kirchen üben sich bei sozialem Engagement eher in Zurückhaltung.
Aus dem Vatikan hört man, dass Papst Franziskus an einer Enzyklika zur Ökologie arbeitet. Ein positives Zeichen auch im Blick auf Ihren Kampf in Brasilien?
Positiv erachte ich vor allem, dass es offenbar keine bloß schöpfungstheologisch ausgerichtete Enzyklika sein wird, die auf Fragen des Wohls von Fauna und Flora abzielt. Vielmehr hat mit Kardinal Turkson, der die Vorlage dazu erarbeiten soll, gesagt, der Papst ziele auf eine „ecologia humana“. Und Papst Franziskus hat dieses Wort bei der Audienz, die er mir gewährte, ganz klar ausgesprochen. Das meint sehr viel mehr als nur Fragen des Umweltschutzes und zielt vor allem auch auf Fragen der Generationengerechtigkeit. Der Mensch in seiner Verantwortung soll im Mittelpunkt stehen.
Könnte das vielleicht auch ein Wink sein, dass die katholische Schöpfungslehre ein wenig „entstaubt“ werden müsste?
Absolut! Die Schöpfungstheologie muss meines Erachtens ausgeweitet werden und viel konkreter die realen Lebensumstände der Menschen in den Blick nehmen, die – wie in Amazonien – skrupellos ausgebeutet werden. Wir haben als Christen den Auftrag, diese Probleme offen anzusprechen. Wir müssen insgesamt als Kirche politischer werden. Das meine ich nicht im Sinne von Parteipolitik, sondern im Sinne dessen, was auch die Befreiungstheologie immer wollte: die Realität der Menschen ernst nehmen und sie im Licht des Wortes Gottes und der kirchlichen Tradition reflektieren, Antworten suchen und dann bei konkreten Aktivitäten mitwirken.
Die Befreiungstheologie stand immer im Verdacht einer übergroßen Nähe zu neomarxistischen politischen Strömungen …
Das ist ein europäisches Klischee. Befreiungstheologie, wie ich sie verstehe und wie wir sie hier leben, ist urbiblisch. Außerdem sollte man diese Dinge heute viel entspannter sehen: So sind viele marxistische Begriffe heute selbst innerhalb der Kirche selbstverständlich geworden. Johannes Paul II., der sicher kein Freund der Befreiungstheologie war, sprach etwa ohne Scheu von einem „edlen Kampf um die Gerechtigkeit“. Und nichts anderes fordert letztlich der Glaube an Jesus Christus von uns: ganz nah bei den Menschen sein und die Stimme für jene erheben, die keine Stimme haben.
Das Interview führte Henning Klingen