ORF.at, 23.9.2014
Wahlkampf in Brasilien
Knappes Rennen zeichnet sich ab
Der Wahlkampf in Brasilien spitzt sich zu - und wird immer mehr zum Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der amtierenden Präsidentin Dilma Rousseff und Ex-Umweltministerin Marina Silva, die nach dem Unfalltod des sozialistischen Kandidaten Eduardo Campos überraschend nominiert wurde. Rousseff setzt jetzt voll auf die Mobilisierung ärmerer Bevölkerungsschichten und warnt vor einer Einstellung des Sozialhilfeprogramms Bolsa Familia. Doch damit spielte sie erst recht Silva in die Hände, die nun einen ihrer größten Trümpfe ausspielt: ihre bewegende Lebensgeschichte.
Emotionale Reden und „Rousselfies“
Die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff gerät zwei Wochen vor der Wahl immer mehr in Bedrängnis. Weil die Amtsinhaberin wirtschaftspolitisch wenig Überzeugendes vorzuweisen hat, setzt sie nun voll auf die Mobilisierung der ärmeren Bevölkerungsschichten. Doch auch dort läuft ihr Marina Silva, Ex-Umweltministerin und Kandidatin der Sozialisten, den Rang ab.
Sie habe während ihrer Amtszeit 22 Mio. Brasilianer aus extremer Armut befreit, betonte Präsidentin Rousseff unlängst auf einer Wahlkampfveranstaltung in der Hauptstadt Brasilia. Ihrer Konkurrentin warf sie dabei vor, die Bolsa Familia, die staatlichen Unterstützungsprogramme für die ärmsten Haushalte, abschaffen zu wollen, hätte Silva doch während des Wahlkampfs mehrfach ein ausgeglichenes Budget verlangt. Die Bolsa Familia ist eine Unterstützungsprogramm für Familien, dessen Leistungen an den Schulbesuch und Impfnachweise für Kinder gekoppelt ist. Fast 60 Mio. bedürftige Brasilianer stehen direkt oder indirekt auf der Empfängerliste für soziale Hilfen. Der übergeordnete Plan „Brasil sem Miseria“ („Brasilien ohne Elend“) hat ein klares Ziel: Jeder Brasilianer soll mindestens 70 Reais (26,83 Euro) im Monat zum Leben haben.
Wenige Tage später konterte Silva bei einem Wahlkampfauftritt in Fortaleza mit einer emotionalen Rede. Selbst in ärmsten Verhältnissen aufgewachsen, wisse sie, was es bedeutet, nichts zu essen zu haben. Ihre Eltern hätten gehungert, um ihren Kindern ein kärgliches Mahl bieten zu können. „Jemand, der das erlebt hat, der würde die Bolsa Familia niemals abschaffen. Das sind keine leeren Worte. Das ist das Leben“, endete sie ihren Vortrag.
Rousseffs Vorsprung schmilzt dahin
Die Rede, die im Fernsehen übertragen wurde, könnte Silva nun ihrem Ziel ein Stück näher gebracht haben. Schnell verbreitete sich das Video, das mittlerweile als offizieller Wahlkampfspot dient, im Internet. Für große Teile der Bevölkerung ist Silva, als Tochter einer armen Kautschukzapferfamilie im Regenwald am Amazonas geboren, eine Identifikationsfigur, die ihren Einsatz für die notleidende Bevölkerung glaubhaft vermittelt.
Marina Silva gilt als ernstzunehmende Konkurrenz für Präsidentin Dilma Rousseff
Rousseff verdankt ihre Popularität bei der armen Bevölkerung primär den Errungenschaften ihres Vorgängers und politischen Ziehvaters Luiz Inacio Lula da Silva, der während seiner achtjährigen Präsidentschaft Einnahmen aus dem Rohstoffboom erstmals über Sozialprogramme auch an die Armen Brasiliens verteilte und dadurch trotz Wirtschaftskrise die Armutsrate deutlich senken konnte. Rousseff, die sich anders als Lula da Silva bisher wenig volksnah zeigte, versucht sich nun durch breite Social-Media-Kampagnen zugänglich zu zeigen. Dazu gehört etwa der Aufruf an die Fans „Rousselfies“ - Selfies mit der Präsidentin, für die sie sich bei Auftritten bereitwillig zur Verfügung stellt - zu twittern.
„Rousselfie“: Rousseff setzt im Endspurt ganz auf Social Media
Jüngsten Umfragen zufolge käme Rousseff im ersten Wahlgang derzeit auf 37 Prozent. Für Marina Silva würden 30 Prozent stimmen, Ex-Gouverneur Aecio Neves von der sozialdemokratischen Mitte-rechts-Partei PSDB käme auf 17 Prozent. Offen wäre der Ausgang der Stichwahl, die für den 26. Oktober terminiert ist. Da würde Silva den Umfragen zufolge derzeit mit 46 Prozent sogar knapp vor Rousseff (44 Prozent) liegen. Deutlich überlegen wäre Rousseff dagegen mit 49 Prozent bei einer Stichwahl gegen Neves (39 Prozent).
Wahlkampf ohne erhofften WM-Schub
Rousseff hatte sich von der Fußball-WM im eigenen Land einen Schub erwartet, der angesichts der massiven Proteste aber ausblieb bzw. ihre Popularität eher beschädigte. Die zahlreichen Demonstrationen, deren Initiatoren die mediale Öffentlichkeit nutzten, richteten sich gegen die gigantisch hohen Investitionen für den Bau von Stadien bei gleichzeitiger Vernachlässigung der sozialen Probleme im Land.
Doch homogen war die Protestbewegung nicht - ihr gehörten nach Meinung von Experten auch Menschen aus der Mittelschicht an, die mit dem sozialen Aufstieg der unteren Klassen unzufrieden sind. Die Enttäuschung, die Rousseff entgegenschlägt, ist also breit gestreut. Auf der anderen Seite stehen wiederum jene, die seit dem Amtseintritt von Rousseffs Vorgänger und Mentor Lula da Silva den Aufstieg aus bitterer Armut in die untere Mittelklasse geschafft haben - auch von vielen dieser deshalb noch immer treuen PT-Wähler kann sich Rousseff fixe Stimmen erwarten.
Doch die PT ist seit dem Amtsantritt von Rousseff-Vorgänger Lula da Silva immer wieder in große Skandale verwickelt. Zwar versuchte sich Rousseff immer wieder von den Skandalen zu distanzieren, aber ihre Nähe zu Lula da Silva, als dessen engste Mitarbeiterin sie jahrelang fungierte, lassen diese Beteuerungen kaum glaubwürdig erscheinen.
Silva als Option für die Enttäuschten?
Mehr Glaubwürdigkeit bringt nach Ansicht vieler Marina Silva mit. Ihre Herkunft aus ärmsten Verhältnissen bringt ihr Sympathien bei Angehörigen der Unter- als auch der unteren Mittelschicht. Weiters steht sie für einen immer größer werdenden Bevölkerungsanteil, nämlich Angehörige von evangelikalen Kirchen. Dadurch hat sie Zugang zu einer Wählerschicht, die Rousseff - bekennende Atheistin - verborgen bleiben. Allerdings ist sie für viele, auch innerhalb der PSB, gesellschaftspolitisch zu konservativ. Aus religiöser Motivation lehnt sie etwa Straffreiheit für Abtreibungen ab und stellt sich gegen die Homosexuellenehe.
Silva kann auch auf eine politische Vergangenheit verweisen, als sie unter Lula da Silva als Umweltministerin fungierte. Doch jene Jahre gestalteten sich für sie enttäuschend, zu wenig Sinn hatte Lula da Silva nach heutiger Darstellung Marina Silvas für Umweltfragen. Bei den Wahlen vor vier Jahren hatte sie aus dem Stand 19 Prozent für die Grüne Partei (PV) geholt.
Zwar wollte Marina Silva für die laufende Präsidentschaftswahl mit einer neuen, eigenen Partei ins Rennen gehen, das oberste Wahlgericht TSE versagte aber die Zulassung für die Wahl. Die Partei habe für die Registrierung nicht das vorgeschriebene Mindestquorum von 491.499 Wählerunterschriften erhalten, argumentierte das Gericht. Aus diesem Umstand heraus schloss sie sich der PSB unter Campos an, um als Vizepräsidentschaftskandidatin zu fungieren. Das dramatische Ableben Eduardo Campos’, der am 13. August bei einem Flugzeugunfall ums Leben kam, rückte sie schließlich endgültig ins Rampenlicht.
NZZ, 23.9.2014
Schlagabtausch zweier Frauen in Brasilien
Marina Silva erweist sich als lernfähige und ernstzunehmende Präsidentschaftskandidatin.
Brasiliens amtierende Präsidentin Dilma Rousseff hat wirtschaftspolitisch wenig Überzeugendes vorzuweisen, ist aber unter den Ärmeren populär. Nun fordert sie ausgerechnet eine Umweltaktivistin ohne Scheuklappen ernsthaft heraus.
Brasiliens amtierende Präsidentin Dilma Rousseff |
Unabhängigkeit der Zentralbank wird in Brasilien zum heißen Wahlkampf-Thema
Wie die Zentralbank eines Landes geführt werden soll, ist für gewöhnlich kein Thema für die Sonntagsreden von Politikern. Aber in Brasilien bekommen die Wähler mitten im Präsidentschaftswahlkampf eine Menge zu diesem Thema zu hören.
Ex-Umweltministerin und Herausforderin Marina da Silva |
Die neue Heldin der Protestwähler
Nach dem Tod ihres Kandidaten Eduardo Campos hat die Sozialistische Partei Brasiliens die frühere Umweltministerin Marina Silva nominiert. Damit hat Präsidentin Dilma Rousseff plötzlich eine Gegnerin, die ihr gefährlich werden könnte.
NZZ, 19.8.2014
Neue Herausforderin bedrängt Präsidentin Rousseff
Präsidentschaftskandidatin Marina Silva an der Beerdigung von Eduardo Campos. Präsidentschaftskandidatin Marina Silva an der Beerdigung von Eduardo Campos. (Bild: Reuters)
Nach dem tödlichen Unglück von Eduardo Campos übernimmt die ehemalige Umweltministerin Marina Silva die Kandidatur der Sozialisten. Erste Umfragen rechnen ihr gute Chancen aus.