Mittwoch, 16. März 2011

Das brasilianische Entwicklungsmodell

Le Monde diplomatique Nr. 9442 vom 11.3.2011

Das brasilianische Modell
Entwicklung ist Umverteilung plus Großprojekte

von Thomas Fatheuer

Brasilien scheint endlich da angelangt zu sein, wo es seit langem sein wollte: im Kreis der Großmächte. Die neue weltpolitische Rolle der Schwellenländer, der emerging economies, Brics oder wie immer die Kategorisierungsversuche lauten mögen, ist in aller Munde. Natürlich stehen Indien und China in der ersten Reihe, aber gleich danach drängt Brasilien in den Vordergrund.

Die Bilanz der acht Jahre Präsidentschaft von Inácio Lula da Silva, dem ehemaligen Gewerkschaftsführer, in denen Brasilien den entscheidenden Sprung nach vorn machte: Stetiges Wirtschaftswachstum, ein schnelles Überwinden der Finanzkrise und aktive Sozialpolitik brachten dem Land nicht nur internationale Anerkennung, sondern dem Präsidenten auch im achten Jahr seiner Amtszeit Zustimmungswerte von über 80 Prozent. So wurde es möglich, dass der charismatische Lula die eher technokratische Dilma Rousseff als Nachfolgerin inthronisieren konnte.

Aber Brasilien sorgt nicht nur für positive Schlagzeilen. Vor allem Umweltprobleme werden – neben der Gewalt in den Städten – auch international als Schattenseiten der neuen Weltmacht wahrgenommen. Und viele der Umweltsünden sind das Ergebnis der bedingungslosen Hingabe der Regierung an das Wirtschaftswachstum. Zum Markenzeichen der Regierung da Silva und seiner Nachfolgerin Rousseff wurde in den letzten Jahren das „Programm zu Beschleunigung des Wachstums“ (PAC), das auf den massiven Ausbau der Infrastruktur und auf Investitionen in Großprojekte setzt.

Ein geradezu paradigmatisches Großvorhaben ist der Bau eines riesigen Wasserkraftwerks im Bundesstaat Pará im Norden Brasiliens, mitten im Amazonasgebiet: Es soll am Rio Xingú, einem Zufluss des Amazonas, entstehen und das drittgrößte der Welt werden. Belo Monte ist ein klangvoller Name für ein so umstrittenes Bauwerk. Schon 1988 sollte am Rio Xingú ein Wasserkraftwerk entstehen, aber internationaler Protest – Höhepunkt war damals ein Konzert von Sting in der nahe gelegenen Stadt Altamira – hat das Vorhaben lange verhindert.

Vor zwanzig Jahren war es leichter, Proteste auf die Beine zu stellen: Damals hing das Vorhaben noch von internationaler Zustimmung ab, von der Weltbank und Krediten aus dem Ausland. Heute braucht die Großmacht Brasilien keine ausländische Hilfe mehr und will den Bau trotz heftiger Proteste aus dem In- und Ausland (von Hollywoodstars wie Sigourney Weaver inklusive) und trotz scharfer Kritik und juristischer Hürden möglichst schnell durchziehen.

Mitte Januar 2011 trat der Chef der brasilianischen Umweltbehörde (Ibama), Abelardo Bayma, zurück, offensichtlich weil er den politischen Druck, endlich die letzte notwendige Genehmigung für den Baubeginn zu erteilen, nicht mehr aushielt. Prompt kam Anfang Februar die Genehmigung. Zwar wurde sie wegen nicht erfüllter Umweltauflagen durch ein Gerichtsurteil aufgehoben, doch die nächste Instanz kassierte diese Entscheidung umgehend wieder ein. Der Bau kann also beginnen.

Das Megaprojekt am Rio Xingú beeindruckt durch gewaltige Zahlen: Für die insgesamt drei Staudämme soll mehr Erde bewegt werden als beim Bau des Panamakanals, und mindestens 20 000 Menschen sollen bei dem Bau beschäftigt und etwa ebenso viele umgesiedelt werden.(1) Das ist für die dünn besiedelte Amazonasregion eine hohe Zahl. Die Auswirkungen auf das Ökosystem des Xingú und auf die regionale Sozialstruktur sind kaum zu bemessen. Zwar werden nach der aktuellen Planung keine indigenen Gebiete mehr überschwemmt, aber im Oberlauf des Flusses wird weniger Wasser fließen, wodurch unter anderem die Fischbestände schwinden und die Wälder vertrocknen würden.

Im Widerstand gegen das Projekt haben sich indigene Völker, lokale Basisgruppen und die katholische Kirche zum regionalen Bündnis „Xingú Vivo“ zusammengeschlossen. Der Bischof von Altamira, Dom Erwin Kräutler, wurde Ende 2010 für sein Engagement mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet – eine Anerkennung nicht zuletzt für seinen Mut. Denn nicht einmal durch Morddrohungen – einen früheren Anschlag hatte Kräutler schwer verletzt überlebt – ließ er sich vom Kampf gegen den Staudamm abhalten.

Wachstum über alles

Weder nationale und internationale Proteste noch die absehbaren Umweltschäden, weder die immensen Kosten noch die Konstruktionsrisiken können die brasilianische Regierung abschrecken. Als private Investoren zögerten, brachte die Regierung die staatlichen Energiebetriebe Eletrobrás, Eletronorte und CHESF (zusammen 49,8 Prozent) sowie Pensionsfonds von Staatsfirmen (mit insgesamt 27,5 Prozent) dazu, einzuspringen, um überhaupt ein handlungsfähiges Baukonsortium zustande zu bringen.2 20 Milliarden Reais (umgerechnet etwa 8 Milliarden Euro) soll das Wasserkraftwerk inzwischen offiziell kosten. Bis zu 80 Prozent der Bausumme werden über die staatliche Entwicklungsbank BNDES finanziert.

Die brasilianische Regierung ist mit ihrem Projekt nach über zwanzig Jahren Verhandlungen, Studien und Umformulierungen fast am Ziel. Es ist wahr – laut aktueller Planung wird eine wesentlich geringere Fläche (516 Qua-dratkilometer) als ursprünglich vorgesehen(3) überschwemmt, ein Kompromiss zwischen Umwelt und Entwicklung, heißt es vonseiten der Regierung. Die Umweltschützer kann das kaum beeindrucken. Sie weisen darauf hin, dass die von der Regierung wiederholt angegebene Kapazität von 11 000 Megawatt nur während eines Teils des Jahres erreicht werden kann. In der Trockenzeit, wenn die Flüsse wenig Wasser führen, sinkt die Leistung auf 4 000 Megawatt. Daher, so die Kritiker, ist zu befürchten, dass in Zukunft weitere Staudämme am Oberlauf des Xingú gebaut werden müssen, um die Auslastung der Kapazitäten von Belo Monte zu garantieren.

Maurício Tolmasquin, den Chef der staatlichen Energieagentur EPE, kann die Kritik von Umweltschützern nicht erschüttern: „Heute sind Wasserkraftwerke nicht nur Erzeuger von Megawatts, sondern auch Vektoren der nachhaltigen Entwicklung des Landes.“(4) Mit Belo Monte habe die Region das große Los gezogen.

Große Lose sollen aber noch andere Regionen ziehen. Weitere Staudämme sind in Planung. Das nächste Großprojekt hat bereits Namen und Adresse: São Luis do Tapajos soll ebenfalls mitten im Amazonasgebiet entstehen und 6 133 Megawatt produzieren. Insgesamt sollen in der Amazonasregion etwa 45 000 Megawatt durch Wasserkraftwerke erzeugt werden, das entspricht der Leistung von über dreißig Atomkraftwerken.

Wofür nur so viel Energie? Sicher nicht für die Menschen in dem dünn besiedelten Gebiet. „Wir brauchen Energie, um zu wachsen“ – das ist das Mantra der Regierung. Und dieses Wachstum soll auch in der Amazonasregion stattfinden. Sie hat nicht nur das Potenzial für Wasserkraft, sondern verfügt auch über unermessliche Bodenschätze.

Der neue Rohstoffboom auf dem Weltmarkt weckt auch in Amazonien große Erwartungen. Das Aluminiumerz Bauxit kommt hier reichlich vor. Schon jetzt ist die energieintensive Aluminiumindustrie der größte Stromverbraucher in der Region. Rohstoffabbau – neben Bauxit auch Eisenerz – ist die Basis eines neuen Entwicklungszyklus in Amazonien. Und die Industrialisierung der Region soll durch weitere Großinvestitionen wie den Bau eines Stahlwerks in Marabá vorangetrieben werden.

Dem Wachstum gilt seit ein paar Jahren die Priorität der brasilianischen Wirtschaftspolitik, auch in Amazonien. Dem müssen sich Umweltbelange unterordnen. Das musste auch die angesehene Umweltpolitikerin Marina Silva erfahren, die ab 2003 als Umweltministerin in der Regierung Lula saß – und im Juni 2008 schließlich frustriert zurücktrat.

Auf der internationalen Bühne präsentiert sich Brasilien dennoch weiterhin als ökologisches Musterland. Etwa 80 Prozent der elektrischen Energie stammen aus erneuerbaren Quellen (zirka 75 Prozent aus Wasserkraft, der Rest aus Biomasse).(5) Das entspricht ungefähr 45 Prozent des Gesamtenergieverbrauchs und ist einsame Spitze unter den Industrienationen, der Weltdurchschnitt liegt bei 13 Prozent. Es ist der hohe Anteil von Wasserkraft und der verstärkte Einsatz von Ethanol (auf Zuckerrohrbasis) als Treibstoff, der Brasilien diese Ergebnisse beschert.

Insbesondere mit Blick auf die CO(2)-Emissionen aus der Energieerzeugung steht Brasilien also tatsächlich sehr gut da. Das Land sieht sich daher schon längst dort, wo viele hinwollen: in einer CO(2)-armen „Green Economy“.

So manövriert es sich in eine paradoxe Situation: Die Zukunft der Wasserkraft liegt in Amazonien, in den anderen Landesteilen ist das Potenzial der Flüsse weitgehend ausgeschöpft. Und dort gerät der Ausbau erneuerbarer Energien zunehmend in ein sozioökologisches Konfliktfeld: Großstaudämme in Amazonien sind ein sehr hoher ökologischer Preis für erneuerbare Energien. Auch der Ausbau der Agrartreibstoffe stößt auf Kritik.(6) Ökosysteme und landwirtschaftliche Nutzflächen für den Anbau von Zuckerrohrmonokulturen zu opfern, ist angesichts weltweit knapper werdender Ackerflächen eine zumindest problematische Option.

Aber nicht nur Staudämme finden sich auf der Liste der angekündigten Großinvestitionen. Im wasserarmen Nordosten Brasiliens sollen drei neue Atomkraftwerke entstehen. Zudem will das Land in Kooperation mit Frankreich sechs atomgetriebene U-Boote bauen, Stückpreis etwa 550 Millionen Euro. Die Verteidigung der Ölvorräte in der Tief-see(7) und die neue internationale Rolle Brasiliens machen dies erforderlich, wie Marinekommandeur Admiral Júlio Moura Neto verkündete: „Diese Faktoren unterstreichen die Notwendigkeit einer Abschreckungsstrategie.“(8) Gleichzeitig entwickelt Brasilien die Technologie der Urananreicherung weiter und will in absehbarer Zeit zum Exporteur von angereichertem Uran werden.

Derartige Großinvestitionen stehen natürlich in einem geopolitischen Kontext: Zur Grundausstattung einer aufstrebenden Weltmacht gehört anscheinend die Beherrschung des atomaren Kreislaufs. Und obwohl Wasserkraftwerke keine geopolitische Dimension besitzen, haben ein Großstaudamm und ein Atomkraftwerk eines gemeinsam: Beide gehören weltweit zu den teuersten Investitionen überhaupt und gelten als schwer finanzierbar. Deshalb hängen beide in der Regel von staatlichen Hilfen und Finanzierungsgarantien ab. Daran fehlt es in Brasilien nicht. Die staatliche Entwicklungsbank BNDES hat sich längst zu einem Global Player entwickelt. 2010 hat sie Finanzierungen in Höhe von 168 Milliarden Reais (etwa 73 Milliarden Euro) bewilligt, eine Steigerung um 23 Prozent gegenüber 2009. Damit ist die BNDES nach eigenen Angaben die größte Entwicklungsbank der Welt.(9)

Der Aufstieg der BNDES ist untrennbar mit der Regierungszeit Lula da Silvas verbunden. Eine aktive, entwicklungsorientierte Rolle das Staats ist das Markenzeichen des „Systems Lula“. Zusammen mit einer Sozialpolitik, die die Lebenssituation der ärmsten Bevölkerungsgruppen spürbar verbesserte, bildet sie die Basis des Erfolgs seiner Regierung. Großprojekte sind also ein zentraler Bestandteil des Systems, sie sind Ausdruck einer Logik, die durchaus in linker Tradition steht. Lenins Definition „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung“ könnte heute für Brasilien heißen: „Entwicklung ist Umverteilung plus Großprojekte.“

Der Erfolg scheint Lula recht zu geben. Die Wirtschaft ist rasant gewachsen und wächst weiter, die Finanzkrise wurde schnell überwunden, die Programme zur Bekämpfung der Armut und ein stetiger Anstieg des Mindestlohns haben Brasilien sozial annähernd befriedet. Die Gewerkschaften sind Teil des „Systems Lula“ geworden. Brasilien ist heute ein Land fast ohne Streiks und soziale Proteste. Deshalb prallt die Kritik der Umweltschützer auch von der Regierung ab. „Wir haben doch mit unserer Umweltpolitik zwei Wahlen gewonnen, warum sollen wir etwas daran ändern“, erklärte Lula 2008.

Dennoch – ökologische Konflikte haben in Brasilien inzwischen größte Sprengkraft. Deutliches Anzeichen dafür sind die fast 20 Prozent Stimmen, die Exumweltministerin Marina Silva als Kandidatin der schwachen Grünen Partei bei den Präsidentschaftswahlen 2010 erreichte. Die Frage der Großprojekte und des Entwicklungsmodells für Amazonien ist damit nicht mehr allein das Anliegen von Umweltschützern und indigenen Völkern. Sie ist ins Zentrum der nationalen Debatten gerückt.

Fußnoten:
(1) www.brasil.gov.br/para/press/conferences/february-1/transcript-conference-call-with-mauricio-tolmasquim-on-belo-monte-dam-project/br_model1?set_language=en.
(2) Die Zusammensetzung des Betreiberkonsortiums SPE Belo Monte ändert sich ständig, ein Überblick findet sich hier: www.eln.gov.br/opencms/opencms/modulos/noticia/noticia_0490.html?uri. Im Februar 2011 ist die Gruppe Gaia, die der Schlachthauskette Bertin gehört, ausgeschieden.
(3 )Offizielle Zahlen: www.epe.gov.br/leiloes/Paginas/Leilão UHE Belo Monte/EPEdisponibilizaFatoseDadosePerguntasFrequentessobreBeloMonte.aspx.
(4) Agência Brasil, www.brasil.gov.br/noticias/arquivos/2011/02/08/tolmasquim-rebate-criticas-a-construcao-de-belo-monte-e-funai-divulga-nota-de-esclarecimento/newsitem_view?set_language=pt-br.
(5 )Angaben nach Energiebericht 2010 der EPE. Die Zahlen beziehen sich auf das Jahr 2009; vgl. www.epe.gov.brasil, ein guter Überblick in deutscher Sprache: https://www.gtai.de/fdb-SE,MKT201001228012,Google.html.
(6) Siehe auch: Philippe Revelli, „Erneuerbar, aber schmutzig: Ethanol aus Brasilien“, und Regina Câmara und Nicole Walter, „Zucker in den Tank“, "Le Monde diplomatique, April 2009.
(7) www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/0,1518,715634,00.html.
(8) www.estadao.com.br/noticias/nacional,brasil-planeja-frota-com-seis-submarinos-nucleares,643206,0.htm.
(9 )www.bndes.gov.br/SiteBNDES/bndes/bndes_pt/Institucional/Sala_de_Imprensa/Noticias/2011/financas/2011012.

Thomas Fatheuer ist Autor und Berater in Berlin. Von 2003 bis 2010 leitete er das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Brasilien. Vorher arbeitete er in Projekten zum Waldschutz im Amazonasgebiet.